Die aktuelle Gesundheitskrise hat nicht nur in Österreich, sondern weltweit den Stellenwert der intensivmedizinischen Versorgung ebenso in das öffentliche Bewusstsein gerückt wie die Bedeutung der Tatsache, Intensivmedizin auf qualitativ höchstem Niveau betreiben zu können. Die Zukunft der Intensivmedizin bestmöglich zu sichern und dieses wichtige Spezialgebiet weiterzuentwickeln ist in Österreich ebenso wie Europa-weit Gegenstand von Überlegungen und Diskussionen. Hier die Stellungnahme der ÖGARI zu einem Papier der Europäischen Gesellschaft für Intensivmedizin ESICM zur Weiterentwicklung der intensivmedizinischen Ausbildung in Europa.
Stellungnahme der ÖGARI zum Positionspapier der ESICM „Intensive Care Medicine as an Annex V medical specialty“
Die European Society for Intensive Care Medicine (ESICM) hat am 20. November 2020 ein Positionspapier formuliert, in dem eine Harmonisierung der intensivmedizinischen Expertise innerhalb der EU gefordert wird, um Intensivmedizinerinnen und -medizinern Mobilität in Europa zu ermöglichen.
Dieses Positionspapier gibt aus Sicht der ÖGARI Anlass zu Anmerkungen, sowohl auf inhaltlicher als auch auf prozeduraler Ebene.
Hinsichtlich der Vorgangsweise ist festzuhalten, dass dieses Dokument, das sehr grundlegende Fragen der Aus- und Weiterbildung in der Intensivmedizin adressiert, im Vorfeld nicht mit den nationalen intensivmedizinischen Fachgesellschaften oder der UEMS abgestimmt wurde. Dies führte zu einem Einspruch verschiedener Fachgesellschaften, dem sich die ÖGARI angeschlossen hat.
Auf der inhaltlichen Ebene begrüßt die ÖGARI einen einheitlichen europäischen Qualitätsstandard in der Intensivmedizin, der auch eine gegenseitige Anerkennung intensivmedizinischer Qualifikationen auf der Basis unterschiedlicher Systeme in den Mitgliedsstaaten fördert. Eine solche Regelung darf jedoch aus Sicht der ÖGARI unter keinen Umständen jene Systeme begünstigen, in denen es einen Facharzt für Intensivmedizin ohne dahinter liegendes Grundlagenfach gibt. Einen solchen Zugang zur Intensivmedizin schätzt die ÖGARI als wenig nachhaltig ein.
Bekanntlich gibt es unterschiedliche Wege in Europa, sich als Intensivmedizinerin oder Intensivmediziner zu qualifizieren. Nur in einigen Ländern wie etwa Spanien, Portugal oder der Schweiz ist die Intensivmedizin als eigenes Fach etabliert, welches unmittelbar nach dem Studium ohne ein Grundlagenfach erlernt und praktiziert werden kann. Viele Länder – so etwa auch Österreich und Deutschland – bilden intensivmedizinische Expertise auf der Basis eines medizinischen Grundlagenfaches aus, wobei neben anderen Fächern die Anästhesie jedenfalls ein solches Grundlagenfach ist. Dies ist auch besonders naheliegend, da ein Großteil der Kenntnisse und Fertigkeiten, die in der anästhesiologischen Ausbildung erworben werden, elementare Bestandteile der Kenntnisse und Fertigkeiten in der Intensivmedizin darstellen.
Eine stärkere Harmonisierung der intensivmedizinischen Qualifikation in Europa sollte den Weg zur Intensivmedizin über ein Grundlagenfach stärken, und nicht das Konzept des intensivmedizinischen Facharztes. Aus Sicht der ÖGARI muss dieser Aspekt unmissverständlich aus einem gemeinsamen europäischen Positionspapier hervorgehen, das auch die österreichische Fachgesellschaft mittragen kann. Dies ist schon deshalb von Bedeutung, um nachteiligen Entwicklungen für die intensivmedizinische Landschaft Österreichs vorzubeugen. Etwaige Schritte, welche das Konzept eines Facharztes für Intensivmedizin ohne Grundlagenfach in der EU fördern, werden von der ÖGARI abgelehnt.
Diese Position fundiert auf der festen Überzeugung, dass ein Grundlagenfach für die Intensivmedizin langfristig der erfolgversprechende Weg ist. Das Praktizieren der Intensivmedizin setzt fundiertes Wissen in Physiologie, Pathophysiologie und den Behandlungswegen unterschiedlicher Erkrankungen voraus, welche nicht nur im intensivmedizinischen Kontext erlernt werden können.
Zudem ist dies auch wichtig für die Zukunft der Versorgung: Der ärztliche Nachwuchs in einem so wichtigen Segment der Medizin wird durch Grundlagenfächer besser abgesichert, da junge Medizinerinnen und Mediziner in diesen Fächern breitere und vielfältigere Berufsaussichten vorfinden als nur den Arbeitsalltag in der Intensivmedizin, welcher üblicherweise konsumierend und oftmals nur im Schichtdienst zu leisten ist.
Sollte es in Krisenzeiten kurzfristig einen höheren Bedarf an intensivmedizinischen Ressourcen in einem Gesundheitssystem geben – in einzelnen Krankenhäusern, Regionen, Ländern oder der EU – ist der zusätzliche ärztliche Personalbedarf aus personalstarken Grundlagenfächern wie der Anästhesie wesentlich leichter zu decken als aus einem alleine stehenden Spezialgebiet.
All diese Faktoren tragen dazu bei, strukturell und personell, quantitativ wie qualitativ die Intensivmedizin in einem Gesundheitssystem auf höchstem Niveau abzusichern.