5. April 2024

Serie: Für Sie gelesen

von Prim. Univ.-Prof. Dr. Walter Hasibeder

Originalpublikation Turan A et al (2023) Association between mobilisation and composite postoperative complications following major elective surgery. JAMA Surgery. 158:825–830.

© Anna Rauchenberger

Die postoperative Mortalität nach größeren elektiven chirurgischen Eingriffen wird international mit 1–2?% angegeben. Größere Komplikationen treten hingegen ca. zehnmal häufiger auf. Die frühe postoperative Mobilisierung scheint das Auftreten pulmonaler und kardiovaskulärer Komplikationen, die postoperative Insulinresistenz und damit einhergehende Hyperglykämien zu verringern und die Muskelkraft unmittelbar nach dem operativen Eingriff zu erhalten. In früheren Studien war die Beurteilung des Mobilisationsgrades über Beobachtung sehr subjektiv und daher eher ungenau. Vor allem war es nicht möglich, eine objektive Kausalität zwischen Zeit und Grad der Mobilisierung und Effekten auf den postoperativen Verlauf zu etablieren.

In der vorliegenden retrospektiven Single-Center-Observationsstudie wurden das zeitliche Ausmaß und die Intensität der postoperativen Mobilisation innerhalb der ersten 48 postoperativen Stunden mittels eines von Patient:innen getragenen Bewegungsmessers (Akzelerometer) objektiviert und mit postoperativen Komplikationen sowie der Hospitalsmortalität korreliert.

Insgesamt wurden 8653 Patient:innen mit Operationszeiten über zwei Stunden in die Auswertungen aufgenommen. Der Bewegungsmesser musste mindestens 12?h kontinuierlich und störungsfrei innerhalb der ersten 48 postoperativen Stunden getragen werden. Damit werden Grad und Dauer (Halbsitzen, Sitzen, Stehen, Gehen) der Mobilisation, aber auch Kombinationsbewegungen (z.?B. Sitzen und Aufstehen oder Aufstehen und Gehen) genau erfasst.

Das mittlere Alter der eingeschlossenen Patient:innen betrug 57,6 Jahre. Vorerkrankungen des Herzkreislaufsystems waren selten (<?2?%), dennoch wurden 60?% aller eingeschlossenen Patient:innen als ASA III klassifiziert.

Der primäre Outcome-Parameter war die Häufigkeit des Auftretens von schweren Komplikationen: Myokardschäden, Schlaganfall, Ileus, pulmonale und thromboembolische Komplikationen sowie die Hospitalsmortalität. Sekundäre Outcome-Parameter waren die mittleren Schmerzscores und die Rate der Wiederaufnahmen innerhalb von 30 Tagen.

Die mediane Mobilisierungszeit der Patient:innen innerhalb der ersten 48?h nach dem operativen Eingriff lag bei 1,6?h („Interquartil Range“ IQR: 0,66–3,13?h) pro Tag. Ein signifikanter, inverser Zusammenhang zwischen Ausmaß der Mobilisierung und dem Auftreten postoperativer Komplikationen sowie der Hospitalsmortalität wurde gezeigt. Eine Verlängerung der der Mobilisierungszeit um nur vier Minuten pro Tag führte zu einer Verminderung der Wahrscheinlichkeit des primären Outcome-Parameters um 25?%! Sowohl myokardiale als auch pulmonale Komplikationen, Ileus und die Hospitalsmortalität traten mit steigendem Mobilisierungsgrad signifikant weniger häufig auf. Dieser Zusammenhang konnte für Patient:innen mit thorakalen, kolorektalen und orthopädisch chirurgischen Eingriffen signifikant gezeigt werden. Interessanterweise wurde kein Zusammenhang zwischen Ausmaß der Mobilisation und zeitlichen Verlauf der postoperativen Schmerzen sowie der Wiederaufnahmerate nach 30 Tagen gefunden.

Fazit für die Praxis
Ich denke, jedem von uns ist klar, dass Frühmobilisierung nach großen und kleinen chirurgischen Eingriffen zahlreiche positive Patient:inneneffekte hat, die nicht alle einfach zu messen sind (z.?B. psychologische Effekte einer Frühmobilisation). Die besprochene Untersuchung ist insofern herauszuheben, da sie erstmals eine „Dosis-zu-Effekt“-Beziehung zwischen Mobilisierung und Patient:innen-Outcome gezeigt hat. Was mich stört, ist das relativ gesunde Kollektiv, das zu diesem Zweck untersucht wurde. Patient:innen mit großen chirurgischen Eingriffen sind in unserem Krankenhaus und wahrscheinlich in den meisten österreichischen Krankenanstalten im Durchschnitt 15–20 Jahre älter und wesentlich vorerkrankter. Bei diesen Patient:innen sind der allgemeine medizinische Status und insbesondere die Schwere mancher Vorerkrankungen sowie die physiologische Leistungsreserve vor der Operation bei der Frühmobilisation mitzuberücksichtigen. Mobilisierung nach großen Eingriffen ist zeitintensiv und benötigt Personal. Auch diese Tatsache limitiert in der medizinischen Praxis das Ausmaß der Mobilisationsmaßnahmen sowohl auf der Intensiv- als auch auf der Normalstation.

Erschienen in ANÄSTHESIE NACHRICHTEN 1/2024