Immer wieder gibt es Berichte über chirurgische Eingriffe, bei denen die Patienten das invasive Handeln der Ärzte an ihrem Körper mehr oder weniger miterleben („Awareness“-Phänomen) oder sich später daran erinnern („Recall“). Sie sind dazu angetan, für Verunsicherung zu sorgen. Zwar kann es in seltenen Fällen bei Narkosen zu einem solchen „Awareness“-Problem kommen. Die moderne Anästhesie ist aber sehr sicher und hat effektive Methoden entwickelt, um solche Episoden zu verhindern.
„Die Entwicklung der modernen Anästhesie hat es erlaubt, auch sehr große operative Eingriffe unter Schmerz- und Bewusstseinsausschaltung durchzuführen. Die Operationen werden immer komplexer und erfolgen zum Teil unter immer schwierigeren Bedingungen, was den Gesundheitszustand der Patienten angeht. Der Patient will höchste Sicherheit mit kompletter Ausschaltung des Bewusstseins und Schmerzfreiheit – und natürlich die Sicherstellung seiner Vitalfunktionen, die ihn am Leben erhalten“, sagt Univ.-Prof. Dr. Klaus Markstaller, Leiter der Universitätsklinik für Anästhesie, Allgemeine Intensivmedizin und Schmerztherapie der MedUni Wien/AKH und Präsident elect der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI).
Das Auftreten einer „Awareness“-Episode während einer Narkose steht zweifellos in Widerspruch zu den Wünschen des Operierten. Es handelt sich dabei allerdings um eine Problematik mit einer ganzen Palette an Erscheinungsformen. „Dieses Wachheitsphänomen in der Anästhesie kann laut den Berichten sehr unterschiedlich sein. Dabei kommt es dazu, dass der Patient unter Vollnarkose aus irgendeinem Grund Vorgänge während der Operation wahrnimmt. Das kann zu alptraumhaften Erfahrungen und psychischen Belastungen führen. Die Patientin oder der Patient kann Bruchstücke des Geschehens während der Operation ohne Schmerzerleben wahrnehmen. Es gibt aber auch Berichte von Betroffenen, die Schmerzzustände mitbekommen haben, ohne aber reagieren zu können“, schildert Prof. Markstaller.
Sehr seltene Komplikation – Große Studie in Großbritannien
In der internationalen wissenschaftlichen Literatur der Anästhesie wird das als „Awareness“-Phänomen bezeichnet. An dessen Existenz besteht kein Zweifel. „Die Häufigkeit liegt zwischen zwei und fünf Promille, das sind zwei bis fünf Fälle pro 1.000 Vollnarkosen. Auch die moderne Anästhesie kann das nicht hundertprozentig vermeiden“, sagt Prof. Markstaller.
Die Frage, wie oft Personen unter Vollnarkose trotzdem eine „Awareness“-Erfahrungen machen, ist insgesamt sehr schwierig zu beantworten. Am aktuellsten sind wohl die Daten aus einem nationalen britischen Erhebungsprojekt („National Audit Project – NAP5) der beiden britischen anästhesiologischen Fachgesellschaften (Royal College of Anaesthetists und Association of Anaesthetetists of Great Britain and Ireland) zur Bestimmung von Häufigkeit, Risikofaktoren und Ursachen von Wachheitszuständen während einer Narkose. Außerdem wurde versucht, das Ausmaß dieser Wachheitsepisoden zu erheben.
Ausgewertet wurden die anonymisierten Patientenberichte über „Awareness“ bei rund drei Millionen Narkosen in 329 öffentlichen Krankenhäusern in Großbritannien. Dabei ging es um Berichte über solche Erfahrungen von Juni 2012 bis Mai 2013 über alle Eingriffe unter Anästhesie hinweg. Die Autoren der Studie, die 2014 veröffentlicht wurde, identifizierten 141 der Berichte als sichere oder zumindest wahrscheinliche „Awareness“-Episoden. Daraus leiteten die Wissenschaftler ein Verhältnis von einer solchen Erfahrung zu 19.600 Narkosen ab. Beim Einsatz neuromuskulärer Blockade mit Verwendung von Muskelrelaxantien lag die Häufigkeit bei 1:8.200.
Zumindest in den britischen Spitälern lag die „Awareness“-Häufigkeit bei Kaiserschnitt bereits bei 1:670 – allerdings bei bewusst „flacher“ Narkose, weil im Rahmen einer Kaiserschnitt-Entbindung mit Narkose eine Dämpfung der Atemtätigkeit des Kindes als negative Nebenwirkung möglichst verhindert werden soll. Sectio-Eingriffe werden oft überhaupt unter Peridural- oder Spinalanästhesie („Kreuzstich“) – also bei Bewusstsein, jedoch sicherer Schmerzausschaltung – durchgeführt.
Es gibt allerdings Hinweise, dass bei direkter Befragung von Patienten nach einer Narkose die Häufigkeit von „Awareness“-Episoden höher sein dürfte. Ein Faktum, welches in der britischen Untersuchung genannt wurde: Nur ein Drittel der „Awareness“-Episoden entfiel auf den Zeitraum des eigentlichen chirurgischen Eingriffs, etwas weniger als 50 Prozent hingegen auf die Einleitungsphase der Narkose (Induktion) und knapp 20 Prozent auf die Aufwachphase.
Was hinzukommt: Die Erinnerung an eine „Awareness“-Episode kann auch erst längere Zeit nach der Operation selbst wieder im Bewusstsein „auftauchen“. Dieser „Recall“ kann genauso belastend wie eine unmittelbar während der Operation wahrgenommene Wachheitsphase sein. Selbst langwierige psychische Komplikationen wie posttraumatische Belastungsstörungen können daraus entstehen.
Narkose als komplexer Vorgang
Hinter dem Problem steckt auf jeden Fall der komplexe Vorgang, der eine Narkose (Allgemeinanästhesie) erst ausmacht. „Die Narkose beruht auf drei Säulen. Das ist die Ausschaltung des Bewusstseins, die Ausschaltung der Schmerzempfindung und die Relaxierung der Muskeln“, sagt Prof. Markstaller. Letzteres ist nicht bei jeder Narkose notwendig, bzw. nur in bestimmten Phasen wie der Intubation oder bei bestimmten Operationsschritten.
Bei jeglicher Narkose kommt es jedenfalls auf den richtigen „Mix“ von Medikamenten und Maßnahmen zum jeweils gegeben Zeitpunkt an, um das alles ausreichend zu gewährleisten. Es existieren aber offenbar Risikofaktoren für Wachheits-Phänomene während einer Narkose. Prof. Markstaller: „Es ist bekannt, dass sie überall dort häufiger auftreten, wo der Anästhesist die Narkose eher ‚flach‘ halten muss und nicht so viele Medikamente einsetzen kann.“
Das ist der Fall bei Patienten nach Trauma und Schockzustand – zum Beispiel nach einem Unfallgeschehen, wenn also die Herz-Kreislauf-Funktion aufgrund eines hohen Blutverlustes nicht stabil ist. Ähnlich ist das zum Beispiel bei Anästhesien im Rahmen von Herzoperationen. Davon sind besonders häufig Menschen betroffen, deren Herz-Kreislauf-Funktion schon an sich deutlich eingeschränkt ist und bei denen man mit einer Narkose sehr differenziert vorgehen muss. Schließlich gehören dazu auch – wie erwähnt – Schwangere wegen der besonderen Empfindlichkeit des Ungeborenen bzw. des Neugeborenen.
Methoden zur Überwachung
Die moderne Anästhesie hat in den vergangenen Jahren Verfahren etabliert, um die ausreichende „Tiefe“ einer Narkose zu gewährleisten. „Bei der intravenösen Anästhesie mit der Infusion von Narkosemitteln kann eine begleitende EEG-Untersuchung der Gehirnströme Aufschluss darüber geben“, sagt Prof. Markstaller. Bei einer Inhalationsanästhesie mit Narkosegas hingegen lässt sich aus der Dosis des angewendeten Gases und der Menge des ausgeatmeten Narkosegases bestimmen, ob der Patient für die Dauer der Operation ausreichend damit versorgt ist. Die Gabe von Barbituraten oder Benzodiazepinen vor der Einleitung einer Narkose dürfte die Häufigkeit von „Awareness“-Episoden reduzieren. Allerdings haben diese Medikamente wiederum selbst nicht gewünschte Nebeneffekte.
Eindeutige Erkenntnisse aus wissenschaftlichen Studien darüber, welche Methode zur Verhinderung von „Awareness“-Episoden besser ist, gibt es nicht. Es existieren auch keine generell gültigen Empfehlungen dazu. „Aber wir wenden die Monitoring-Verfahren während der Narkose immer bei Risikopatienten an“, betont Prof. Markstaller.
Zur Abklärung, ob Patienten ein Risiko für „Awareness“-Problematik aufweisen, ist das Informations- und Aufklärungsgespräch vor dem Eingriff natürlich besonders wichtig. Genauso wichtig wäre es auch, dass der Anästhesist auch nach einem Eingriff noch ein Gespräch mit dem Patienten führt, um allfällige aufgetretene Probleme während der Narkose zu erfragen. Denn im Fall des Falles sollte ausreichend Hilfe bei der Bewältigung dieser Erfahrung angeboten werden. (WW/Blogredaktion)
Quelle: Cock TM et al, The 5th National Audit Project (NAP5) on accidental awareness during general anaesthesia: patient experiences, human factors, sedation, consent and medicolegal issues. Anaesthesia. 2014 Oct;69(10):1102-16. doi: 10.1111/anae.12827.