Vor kurzem wurden von der World Health Organization (WHO) und der World Federation of Societies of Anaesthesiologists (WFSA) neue, aktualisierte internationale Standards für eine sichere Anwendung der Anästhesie publiziert. „Ein einzigartiges Kooperationspapier zwischen WHO und WFSA, das einen entscheidenden, großen Schritt darstellt“, wie Univ.-Prof. Dr. Burkhard Gustorff meint.
„Primum non nocere“ – der Grundsatz von Hippokrates ist nach wie vor Basis jeder Patientenversorgung. Die Fortschritte, die die Medizin in high-income-Ländern gemacht hat, sind beeindruckend. Auf dem Gebiet der Anästhesie haben zum Beispiel die Institutes of Medicine (jetzt National Academies of Science) bereits im Jahr 1999 publiziert, dass die Rate der Anästhesie-assoziierten Mortalität von 2 in 10.000 auf 1 in 200.000 gesunden Patienten reduziert werden konnte. Dies ist allerdings in low- und middle-income-Ländern nicht der Fall: Dort beträgt die Anästhesie-assoziierte Sterblichkeit 1 in 300 Patienten.
Die Lancet Commission on Global Surgery schätzt, dass fünf Milliarden der sieben Milliarden Menschen der Welt keinen Zugang zu sicherer, erschwinglicher Anästhesie und chirurgischer Versorgung haben, wenn sie sie brauchen.
Zugang zu einer sicheren Anästhesie: ein grundlegendes Menschenrecht
Im Mai 2018 hat der Weltverband der Anästhesisten (WFSA), eine non-profit-Organisation von Anästhesisten in 150 Ländern, ein Update der Internationalen Standards für eine sichere Anästhesie durchgeführt, das erstmals gemeinsam mit der WHO als offizielle WHO-Leitlinie veröffentlicht wurde. Prim. Univ.-Prof. Dr. Burkhard Gustorff, Vorstand der Abteilung für Anästhesie, Intensiv- und Schmerzmedizin am Wilhelminenspital der Stadt Wien: „Dieses Papier ist von enormer Tragweite und stellt als einzigartiges Kooperationspapier zwischen WHO und WFSA einen entscheidenden, großen Schritt dar. Es ist der WFSA damit gelungen, das Thema Anästhesie weltweit zu einem WHO-Thema zu machen. Die Weltgesundheitsorganisation hat die anästhesiologische Versorgung von Menschen auf der ganzen Welt als eines der dringendsten Gesundheitsthemen erkannt und hochrangig bewertet.“
Die Einführung der Internationalen Standards kennzeichnet die zunehmende Bedeutung von Chirurgie und Anästhesie in der globalen Gesundheitspolitik. Da die essenzielle Rolle der Narkose bei der Bereitstellung chirurgischer und geburtshilflicher Versorgung nicht immer von den Entscheidungsträgern wahrgenommen wird, wurde der Entwicklung der Anästhesie in der globalen Gesundheitsagenda oft eine geringere Priorität eingeräumt als der Entwicklung der Chirurgie. Der Zugang zu einer sicheren Anästhesie im Rahmen einer essenziellen Operation ist jedoch ein grundlegendes Menschenrecht und sollte für alle Patienten unabhängig von ihrer Zahlungsfähigkeit verfügbar sein.
„Der Status, den wir in Österreich kennen, dass ein Anästhesist bei Unfällen, Kaiserschnitten etc. stets zur Verfügung steht, ist weltweit bei weitem nicht der Fall. Wenn es um das Überleben von Menschen geht, braucht man die Anästhesie und nicht nur allein die Chirurgie. Das Papier beinhaltet aber auch interessante berufspolitische Themen der ÖGARI– zum Beispiel, ob immer ein Arzt bei der Narkose anwesend sein muss.“
Empfehlungen für die ganze Welt
Die Standards werden Anästhesiegebern auf der ganzen Welt empfohlen und sollen den Spezialisten, ihren Fachgesellschaften, Krankenhaus- und Einrichtungsverwaltern sowie Regierungen bei der Verbesserung und Aufrechterhaltung der Qualität und Sicherheit der Anästhesieversorgung Orientierung und Unterstützung bieten. Sie wurden erstmals am 13. Juni 1992 von der WFSA angenommen und 2008 und 2010 überarbeitet.
Die Standards werden eingeteilt in Dringend empfohlen (entsprechend Minimalstandards, sie stellen das funktionelle Äquivalent von verpflichtenden Anforderungen dar) – Empfohlen – Vorgeschlagen. Sie werden in folgende Gruppen eingeteilt: Professionelle Aspekte – Einrichtung und Ausstattung – Medikamente und intravenöse Flüssigkeiten – Monitoring – Durchführung der Anästhesie. Anhand von sehr übersichtlichen Tabellen sind die wesentlichen Hauptaussagen abgebildet.
„Zu den dringend empfehlenswerten Standards zählt in der intraoperativen Situation die kontinuierliche Anwesenheit eines ausgebildeten und aufmerksamen Anästhesiegebers“, erläutert Prof. Gustorff. Des Weiteren stark empfohlen sind kontinuierliches Monitoring der Sauerstoffversorgung und Durchblutung des Gewebes mittels klinischer Überwachung und Pulsoxymeter mit hörbarem Alarm; intermittierendes Monitoring des Blutdruckes; Bestätigung einer korrekten Lage des endotrachealen Tubus (falls verwendet) mittels Auskultation sowie CO2-Detektion in der Ausatmungsluft; Verwenden der WHO-Checkliste für sichere Chirurgie.
„Wichtig ist auch das Vorhandensein einer Post-Anästhesie-Einheit wie dem Aufwachraum. Möglicherweise ist es auch in Österreich so, dass es nicht in allen Krankenhäusern eine 24-h-Postanästhesie-Überwachung inklusive adäquatem Personal, Pulsoxymetrie und Blutdruckkontrolle gibt“, so Prof. Gustorff.
Es sollten immer Anästhesisten sein, die Anästhesie geben – wo immer es möglich ist. Prof. Gustorff: „Bei Ländern mit geringeren Standards oder Möglichkeiten sind auch andere Berufsgruppen möglich; aber stets mit höchstmöglichen Sicherheitsstandards der jeweiligen Struktur. Die lokalen bzw. nationalen Standards sollen immer angewandt werden. In Österreich ist das geklärt: es dürfen nur Ärzte Anästhesie geben.“ Gute Ausbildung und Training sind absolut empfohlen und Voraussetzung für anästhesiegebendes Personal. „Weiters wird empfohlen, dass ein hoher Anästhesiestandard ohne unnötige starke Ermüdung des Personals gewährleistet“, meint Prof. Gustorff.
Auf der Medikamentenliste stark empfohlen sind Ketamin, Diazepam, Midazolam und Morphin und eventuell Lokalanästhetika, Minerallösungen, O2 und Blutdruckmedikamente (Epinephrin und Atropin). Postoperativ sollten weltweit Opiate und Paracetamol und womöglich NSAR zur Verfügung stehen. Prof. Gustorff: „Zum Pain Management gibt es eine klare Aussage: Postoperative Schmerzen sollen mithilfe von Morphin oder Paracetamol adäquat gelindert werden.“
Effektive Kommunikation und Teamwork erforderlich
Die Internationalen Standards verstehen sich als minimale Standards; das Ziel sollte immer sein, den höchstmöglichen Standard zu praktizieren, vorzugsweise einen noch höheren als vorgeschlagen. Sie sind in erster Linie für jene Länder gedacht, die noch keine nationalen Standards haben und sollen minimale Anforderungen für alle Anästhesie-Einrichtungen definieren. Prof. Gustorff: „Sichere Anästhesie und Chirurgie erfordern beste, effektive Kommunikation und sehr gutes Teamwork aller am Patienten tätigen Menschen. Sicherheit steht an oberster Stelle und ist der Garant für Sicherheit und Kommunikation:“
Die World Bank schätzt in ihren „Prioritäten in der Seuchenkontrolle 3“, dass eine globale Investition von nur drei Milliarden US-Dollar pro Jahr in Krankenhäusern der ersten Ebene weltweit eine Abdeckung von Notfalloperationen und essenziellen Eingriffen erzielen könnte – bei einem Return of Investment von 10:1.
Prof. Gustorff abschließend: „Aus einem solchen Papier kann der Wert einer weltpolitischen Fachpolitik ersehen werden. Man sollte ernsthaft diskutieren, ob die ÖGARI bei einer solch wichtigen Fachgesellschaft wie der WFSA nicht doch wieder Mitglied wird.“ (Blogredaktion/ Dr. Hannelore Nöbauer)
Gelb A et al; World Health Organization-World Federation of Societies of Anaesthesiologists (WHO-WFSA) International Standards for a Safe Practice of Anesthesia; Can J Anesth 2018 May 7. doi: 10.1007/s12630-018-1111-5. [Epub ahead of print];
Eine Mitgliedschaft der ÖGARI bei der WFSA wäre sicher zu begrüßen. Nur wer dabei ist kann mitdiskutieren und Einfluss auf Entscheidungen nehmen die Letzen Endes auch unsere tägliche Praxis beeinflussen werden.