Bei einem Online-Pressegespräch der ÖGARI berichtete ÖGARI-Präsident Univ.-Prof. Dr. Klaus Markstaller, Wien, über die virtuelle Jahrestagung AIC Digital 2020, die aktuelle Situation auf den Intensivstationen und betonte die Notwendigkeit, die Intensivmedizin auch nach der Pandemie weiter zu stärken.
Die meisten von Ihnen kennen das: Einmal im Jahr, immer um diese Zeit, informiert Sie die Österreichische Gesellschaft für Anästhesie, Reanimation und Intensivmedizin routinemäßig anlässlich des Jahreskongresses über Aktuelles und Wissenswertes aus unserem Fachgebiet. Das tun wir auch heute wieder – aber abgesehen davon, kann von Routine keine Rede sein, seit vor neun Monaten die SARS-CoV-2-Pandemie auch Österreich erreicht hat. Keineswegs zur Routine gehört es etwa, dass unsere Jahrestagung nicht nur dem Hauptthema „Digitalisierung“ gewidmet ist, sondern erstmals auch vollständig digital stattfinden wird.
Und das Gegenteil von Routine ist es, was wir aktuell an den österreichischen Intensivstationen erleben. Mit Stand gestern, 23. November, wurden laut Daten des Gesundheits- und Innenministeriums 685 Personen mit COVID-19 intensivmedizinisch behandelt, weitere 3.863 auf Normalstationen der österreichischen Krankenhäuser. Das sind viereinhalb Mal so viele Intensivpatientinnen und -patienten, die mit COVID-19 behandelt werden, wie einen Monat vorher.
Gerade in dieser Situation ist ein eingehender Informations- und Erfahrungsaustausch wichtig, der uns allen dabei hilft, die kritische Situation bestmöglich zu bewältigen. Dies alles ist so organisiert, dass es mit den aktuellen hohen Anforderungen an den Kliniken vereinbar ist. Sowohl für Referentinnen und Referenten als auch für die virtuellen Besucherinnen und Besucher gibt es größtmögliche zeitliche Flexibilität und die Möglichkeit der Beteiligung, ohne dass dies mit beruflichen Verpflichtungen und Anforderungen kollidiert. Die Vorträge wurden bereits im Vorfeld von den Präsentierenden aufgezeichnet. Die Teilnehmerinnen und -teilnehmer können Sitzungen jederzeit, also auch zu einem späteren Zeitpunkt „on demand“ abrufen, was sicher in hohem Ausmaß wahrgenommen wird.
Doch nun zurück zu den vorhin zitierten Zahlen, wie die Situation an Österreichs Intensivstationen aussieht. Die aktuellen Maßnahmen wirken sich also noch nicht spürbar auf die Zahl der Spitalsaufnahmen aus. Damit befinden wir uns in einem Zustand, in dem die intensivmedizinischen Kapazitäten auf das Äußerste angespannt sind. Und an dieser Stelle möchte ich auch ganz ausdrücklich allen Ärztinnen und Ärzten, Angehörigen des Pflegepersonals und anderer Gesundheitsberufe danken, die jetzt unter diesen schwierigen Bedingungen alles geben, um trotzdem alle schwer kranken Menschen bestmöglich zu versorgen.
Schauen wir noch einmal zurück: Sie alle erinnern sich an die ersten Fälle der neuartigen Viruserkrankung in Österreich, an den ersten exponentiellen Anstieg bei den Infektionszahlen: In der sogenannten „ersten Welle“ konnten wir – auch dank sehr guter Vorbereitungen in den Spitälern, deutlicher Maßnahmen und einer großen Solidarität in der Bevölkerung in der Umsetzung von Schutzmaßnahmen – unsere stationären Kapazitäten gut schützen.
Es gelang, das Infektionsgeschehen auf ein niedriges Niveau zu bringen. Diesem ambitionierten Start folgte ein gewisses Nachlassen bei der Pandemie-Motivation – nicht zuletzt beflügelt durch fragwürdige Aussagen von Vertretern verschiedener Disziplinen, die etwa vor kurzer Zeit noch behaupteten, es würde in Österreich mit Sicherheit nie Engpässe bei den intensivmedizinischen Kapazitäten geben oder die Influenza sei als Gesundheitsbedrohung weitaus höher einzustufen als SARS-CoV-2.
Wir haben schon im Sommer eingemahnt – und glauben Sie mir, wir hätten sehr gerne unrecht behalten – dass für kritischere Konstellationen im Herbst und Winter aufgrund eines erhöhten Aufkommens an SARS-CoV-2-Infektionen rechtzeitig auf allen Ebenen Vorsorge getroffen werden muss.
Grenzen der Belastbarkeit der Intensivressourcen
Als die zweite Pandemie-Welle, wie wir sie in ganz Europa sehen, auch Österreich voll erfasst hat und ein noch viel massiverer Anstieg bei den Neuinfektionen als im Frühjahr eintrat, war uns aufgrund unserer Kenntnisse der Verläufe rasch klar, dass das zwangsläufig auch zu einem massiven Anstieg der Zahl der Intensivpatientinnen und -patienten führen würde. Das hat sich in dramatischer Weise bewahrheitet, und in manchen Teilen Österreichs sind die Grenzen der Belastbarkeit der Intensivressourcen bereits erreicht.
Es werden derzeit österreichweit größte Kraftanstrengungen unternommen, um auch in dieser Situation nochmals Ressourcen, wo immer möglich, zu erweitern, Personal umzuschichten, Aufwachräume für die Intensivversorgung zu nutzen, Kapazitäten durch die Verschiebung von nicht dringend erforderlichen Behandlungen zu gewinnen und vieles andere mehr. Aber diese Bemühungen, die hochspezialisierten Intensivkapazitäten zu erweitern, haben Grenzen. Mit dem aktuellen Kraftakt gelingt es uns derzeit noch, durch diese zweite Welle zu kommen: Aber jetzt müssen die leichten Rückgänge, die es seit einigen Tagen bei der Zahl der Neuinfektionen auf weiterhin sehr hohem Niveau allerdings gibt, zu einer raschen Abnahme bei der Zahl der intensivpflichtig Erkrankten führen. Sonst befinden wir uns in einer Versorgungskrise, wie wir sie in unserem hochentwickelten Gesundheitssystem noch nicht erlebt haben.
Wenn die Ressourcen einmal nicht mehr ausreichen, dass alle Menschen, die Intensivmedizin benötigen, bestmöglich betreut werden, stehen wir vor Entscheidungen, die niemand treffen möchte. Bei einer Überlastung der Intensivstationen gibt es nur Verlierer: Es sinkt unvermeidlich die Behandlungsqualität, es steigt die Mortalität bei Intensivpatientinnen und -patienten, ob mit COVID-19 oder anderen Erkrankungen. Es trifft Menschen, die an nicht akuten Erkrankungen leiden, und für die es notwendigerweise „Bitte warten“ heißt. Und es verliert auch das Personal, das an und über der Belastungsgrenze arbeitet.
Apropos Mortalität, hier ist auch ein Vergleich mit anderen Ländern interessant. Zwar ist in Österreich die Zahl der Menschen, die an oder mit COVID-19 verstorben sind, zuletzt auch stark angestiegen und wurde gestern mit 2.459 angegeben. Die Todesfälle in Relation zur Bevölkerung liegen hierzulande (Stand 22.11.) bei knapp 27 pro 100.000 und damit deutlich niedriger als z.B. in der Schweiz mit 47 pro 100.000.
Ein Grund dafür mag sein, dass bei unseren Nachbarn bei vergleichbarer Bevölkerung nur rund 880 zertifizierte Intensivbetten verfügbar und damit die Belastungsgrenze durch die hohe Zahl von COVD-19-Erkrankungen bereits früher als bei uns erreicht war. Ein anderer Vergleich: Deutschland mit einer Intensivbetten-Dichte von 33,9 pro 100.000 Einwohnern weist knapp 17 Todesfälle pro 100.000 auf, Spanien mit nur 9,7 Betten pro 100.000 mehr als 91 Todesfälle pro 100.000 Einwohner.
Intensivmedizin stärken
Eine wichtige Lehre für die Zeit nach der Pandemie ist daher: Wir müssen die Intensivmedizin unbedingt weiter stärken – das haben inzwischen hoffentlich auch jene angeblichen „Experten“ verstanden, die schon unmittelbar nach der ersten Corona-Welle einmal mehr nicht müde wurden, die angeblich viel zu „hohe Intensivbettendichte“ zu kritisieren.
Das Sonderfach Anästhesie und Intensivmedizin ist ein medizinisches Fach, das üblicherweise für die Öffentlichkeit nicht so sichtbar ist, aber schon immer eine zentrale Rolle in der klinischen Versorgung spielte. Die Corona-Krise hat in den vergangenen Monaten eine der Säulen der modernen Anästhesiologie ganz besonders in das Rampenlicht geholt – die Intensivmedizin. Weniger bekannt ist häufig, wie breit das Fachgebiet aufgestellt ist und dass viele Anästhesiologinnen und Anästhesiologen nicht nur an den Intensivstationen und im OP arbeiten, sondern auch als wichtige Krisenmanager im Ressourcenmanagement, in der präklinischen und klinischen Notfallmedizin und der Schmerztherapie.
Die Intensivmedizin ist ein Spezialgebiet, das prinzipiell auf verschiedenen Fächern aufbauen kann. Die Kombination von Anästhesie und Intensivmedizin ergibt sich allerdings zwangsläufig, da dieselben physiologischen und pharmakologischen Kenntnisse, dieselben technischen Prozeduren wie die Intubation oder Katheteranlagen sowohl bei der Narkoseführung im OP als auch in der Intensivmedizin zum Einsatz kommen. Letztlich ist die Narkoseführung im OP in vielen Fällen eine intensivmedizinische Betreuung von Patientinnen und Patienten während eines operativen Eingriffes.
Unser Fach – und ich spreche hier nicht nur von Ärztinnen und Ärzten, sondern auch von den spezialisierten Pflegekräften – steht jedenfalls bereit, an der weiteren Stärkung und dem Ausbau der Intensivmedizin zentral mitzuwirken, wenn die aktuelle Krise überwunden ist.
Der enge Schulterschluss zwischen Medizinerinnen und Medizinern und den anderen Gesundheitsberufen, der uns in der Pandemie stark gemacht hat, soll sich übrigens auch in Zukunft in unserer Organisation widerspiegeln. Die ÖGARI wird sich zukünftig als Fachgesellschaft auch gegenüber der Pflege öffnen und gemeinsame Projekte entwickeln.