22. November 2024
Ein praxisorientierter Blick auf die unterschiedlichen Anforderungen kritisch kranker Notfallpatient:innen
von Martin W. Dünser (1), Matthias Noitz (1); Philip Eisenburger (2, 3), Michaela Klinglmair (1), Jens Meier (1), Wilhelm Behringer (4)
1 Universitätsklinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Kepler Universitätsklinikum und Johannes Kepler Universität, Linz
2 Abteilung für Notfallmedizin, Klinik Floridsdorf, Wien
3 Sigmund Freud Privatuniversität, Wien
4 Universitätsklinik für Notfallmedizin, Universitätsklinikum Allgemeines Krankenhaus Wien, Medizinische Universität Wien
Zusammenfassung
Kritisch kranke Notfallpatient:innen stellen unterschiedliche Anforderungen an Art und Dauer der Erstversorgung in einer Notfallabteilung. Während jene mit Trauma häufig so schnell wie möglich einer operativen Versorgung zugeführt werden müssen, unterscheiden sich kritisch kranke Patient:innen mit den unterschiedlichsten nicht-traumatologischen Pathologien sowohl in den Anforderungen an die Dringlichkeit der diagnostischen und therapeutischen Versorgung als auch in der Aufenthaltsdauer bis zur möglichen Reversierung der kritischen Erkrankung oder Festlegung Patient:innen-zentrierter Therapieziele.
Die Autor:innen plädieren dafür, in den Notfallabteilungen intensivmedizinische Behandlungsbereiche zu etablieren, die eine optimale Versorgung aller kritisch kranken Notfallpatient:innen (mit oder ohne Trauma) gestatten und die Anpassung der Behandlungsstrategien an die individuellen Bedürfnisse der Patient:innen erlauben. Schockräume bzw. Schockraumbehandlungsplätze zur Versorgung von Notfallpatient:innen, die einer Zeit-fokussierten und multiprofessionellen Erstbehandlung bedürfen (z.?B. Schwerverletzte, Patient:innen unter laufender oder Z.?n. kardiopulmonaler Reanimation, Patient:innen unter extrakorporaler kardiopulmonaler Reanimation (eCPR)) sollen in diesen Intensivbehandlungsbereichen integriert sein.
Historische Perspektive und ÖSG
Die Bezeichnung Schockraum beruht auf der historischen Intention, eine räumliche Organisationsstruktur in einem Akutkrankenhaus einzurichten, in der schockierte bzw. schwerverletzte Patient:innen bestmöglich erstversorgt werden können. Schockräume sind daher bei optimaler Planung in unmittelbarer Nähe zur Rettungseinfahrt, der Computertomographie und dem Operationsbereich positioniert. Eine Röntgenanlage, ein Anästhesiearbeitsplatz, ein Ultraschallgerät, Point-of-care-Labordiagnostik, ein Massivtransfusionsgerät sowie Materialien zur Durchführung von lebensrettenden Soforteingriffen stellen typische Ausstattungsmerkmale von Schockräumen dar [1]. Die Bezeichnung Schockraum impliziert üblicherweise, so auch im Österreichischen Strukturplan Gesundheit (ÖSG) [2], die Behandlung traumatologischer, jedoch nicht die Versorgung kritisch kranker nicht-traumatologischer Patient:innen. Organisatorisch werden Schockräume in Österreich deshalb zumeist von unfallchirurgischen oder anästhesiologischen Abteilungen betrieben. Die Versorgung von Schwerverletzten erfolgt als Qualitätsmerkmal interdisziplinär im multiprofessionellen Team zwischen Anästhesie, Unfallchirurgie und Radiologie. Das Patient:innenmanagement im Schockraum wird durch einen Teamleader konzertiert und orientiert sich an den Prinzipien des Advanced Trauma Life Supports (ATLS) oder dem European Trauma Course (ETC). Im deutschsprachigen Raum gilt außerdem die S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie zur Polytrauma/Schwerverletztenbehandlung als akzeptierter Versorgungsstandard [3]. Der Behandlungsfokus im Schockraum liegt dabei auf der Sicherung der Vitalfunktionen sowie der raschen Diagnostik zum Blutungsnachweis und dem Erfassen der Verletzungsschwere. Mit dem Ziel einer schnellstmöglichen Blutungskontrolle sollte die Aufenthaltsdauer im Schockraum so kurz wie möglich sein und 60?min nicht überschreiten.
Status Quo in Österreich
Der ÖSG 2017 regelt die Verfügbarkeit, personelle Besetzung und apparative Ausstattung von Schockräumen zur Behandlung von schwerverletzten bzw. brandverletzten Patient:innen in Österreich [2]. Der Großteil der Akutkrankenhäuser in Österreich betreibt einen Schockraum, zumeist mit einer Behandlungsposition. In größeren Kliniken bzw. Traumazentren stehen zwei oder mehr Schockräume oder ein Schockraum mit mehreren Behandlungspositionen zur Verfügung.
In Akutkrankenhäuser werden allerdings weit mehr kritisch kranke nicht-traumatologische als kritisch kranke traumatologische Patient:innen eingeliefert, abhängig vom Untersuchungsort und -zeitraum, im Verhältnis von etwa 3:1 (unpublizierte Daten AKH Wien) oder 4:1 [4]. Die Einlieferungsmodalitäten von kritisch kranken nicht-traumatologischen Patient:innen durch den Rettungsdienst sowie deren Akutversorgung im Krankenhaus werden im ÖSG nicht explizit geregelt. Er sieht pauschal vor, dass Patient:innen mit Akut- und Notfällen in sogenannten Zentralen Ambulanten Erstversorgungseinheiten (ZAE) behandelt werden. Die ZAE sollen die Einschätzung der Dringlichkeit nach standardisierter Methodik („Triage“) durchführen sowie eine entsprechende Begutachtung, Behandlung und/oder Weiterleitung, auch in den niedergelassenen Bereich, veranlassen. Bei Bedarf soll eine Beobachtung bis maximal 24?h in ambulanter Spitalsbehandlung möglich sein [2].
In Österreich liegen bislang keine systematisch erhobenen Daten zur Erstversorgung kritisch kranker nicht-traumatologischer Patient:innen mit offensichtlicher Intensivpflichtigkeit in Akutkrankenhäusern vor. Deren Versorgung erfolgt erfahrungsgemäß entweder in einem traumatologischen Schockraum, unter Umgehung der Erstversorgungseinheit direkt in einer Intensivstation bzw. einem Spezialbereich (z.?B. Koronarangiographie), oder in einem Akutbereich der ZAE. Bei Einlieferung kritisch kranker nicht-traumatologischer Patient:innen in den traumatologischen Schockraum orientiert sich auch die Versorgung typischerweise am Zeit-fokussierten Behandlungskonzept der traumatologischen Schockraumbehandlung. Bei Einlieferung in einen Akutbereich einer ZAE erfolgt die Versorgung dieser Patient:innen entsprechend den lokalen Protokollen.
Sowohl die Qualität als auch die Konsequenzen dieser vermeintlich nicht-standardisierten und unregulierten Erstversorgung von kritisch kranken nicht-traumatologischen Patient:innen in österreichischen Notfallabteilungen sind angesichts fehlender Daten schwer einzuschätzen, wobei folgende Punkte berücksichtigt werden müssen:
- Rechtzeitiges Erkennen einer kritischen Erkrankung bei nicht-traumatologischen Patient:innen: Eine relevante Verzögerung bis zum Beginn einer intensivmedizinischen Behandlung (z.?B. erst nach Aufnahme auf einer Intensivstation) aufgrund eines verzögerten Erkennens einer kritischen Erkrankung kann die Aufenthaltsdauer auf der Intensivstation sowie im Krankenhaus verlängern und die Überlebenschancen verringern [5, 6].
- Schonung von Intensivkapazitäten: Eine adäquate, rasche Diagnostik und Therapie initial kritisch kranker nicht-traumatologischer Patient:innen in der Notfalleinrichtung ermöglicht bei verschiedenen Erkrankungsbildern innerhalb weniger Stunden eine Stabilisierung. Beispielhaft zu erwähnende Pathologien mit rascher Reversibilität sind das hypertensive Lungenödem („sympathetic crashing acute pulmonary edema“ – SCAPE) [7], die COPD-Exazerbation, hyperglykäme Entgleisungen, Dehydratationszustände, gastrointestinale Blutungen oder milde bzw. moderate Sepsisverläufe. Patient:innen mit solchen Krankheitsbildern können nach rascher intensivmedizinischer Behandlung in der Notfallabteilung oft unter Schonung von Intensivkapazitäten direkt auf eine Intermediate-Care-Station oder Normalstation transferiert werden, auch außerhalb der sonst für Intensivstationen typischen (vormittäglichen) Verlegungszeitfenster. Als weiteres Beispiel können AV-nodale Reentry-Tachykardien erwähnt werden. Diese Patient:innen sind üblicherweise innerhalb weniger Minuten erfolgreich therapiert und im Anschluss sogar aus dem Krankenhaus zu entlassen.
Vom Rettungsdienst als kritisch krank eingeschätzte nicht-traumatologische Patient:innen benötigen nach Direkteinlieferung auf eine Intensivstation oft keine intensivmedizinische Behandlung. Als Beispiel kann man Patient:innen nach einem epileptischen Anfall nennen, die zwar im Rettungsdienst als komatös für eine intensivmedizinische Überwachung angekündigt sind, dann aber im Verlauf rasch aufklaren und eigentlich keiner intensivmedizinischen Betreuung bedürfen. - Patient:innensicherheit: Kritisch kranke nicht-traumatologische Patient:innen benötigen in der Initialphase oft mehrere diagnostische Untersuchungen und therapeutische Interventionen. Diese lassen sich einfacher in der Umgebung der Notfallabteilung unter Minimierung von risikobehafteten Intrahospitaltransfers und Zeitverzögerungen als von der Intensivstation aus durchführen.
- Patient:innenwunsch und Therapieziele: Werden kritisch kranke nicht-traumatologische Patient:innen (mit oder ohne Verzögerung) notfallmäßig auf einer Intensivstation aufgenommen, können Patient:innenwünsche und Therapieziele häufig nicht vor der Aufnahme bzw. Einleitung einer intensivmedizinischen Behandlung suffizient erhoben bzw. detailliert besprochen werden. Gerade bei gebrechlichen Patient:innen oder jenen mit limitierender Grunderkrankung führt eine solche Strategie immer wieder zur Einleitung von nicht gewünschten Behandlungen oder einer intensivmedizinischen Übertherapie [8].
Das Schockraum-Versorgungskonzept in Deutschland
Im Rahmen der bundesweiten Neugestaltung der innerklinischen Notfallversorgung wurden in vielen deutschen Akutkrankenhäusern sogenannte „Zentrale Notaufnahmen“ eingerichtet. In einer rezenten Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA) und der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) wird die Anzahl und materielle sowie apparative Ausstattung von Schockräumen in solchen „Zentralen Notaufnahmen“ geregelt. Dabei wird zwischen Schockräumen für traumatologische und nicht-traumatologische Patient:innen unterschieden [9].
In einer deutschlandweiten Umfrage zeigte sich, dass ein Schockraum in allen der 131 befragten „Zentralen Notaufnahmen“ betrieben wurde [10]. Um die Versorgung kritisch kranker nicht-traumatologischer Patient:innen einheitlich zu gestalten und zu verbessern, etablierte die DGINA eine Arbeitsgruppe zur Regelung der strukturellen, organisatorischen und medizinischen Aspekte der Versorgung dieser Patient:innengruppe im Schockraum. In scheinbarer Analogie zur in Österreich und Deutschland üblichen Trennung der Versorgung kritisch kranker Patient:innen in eine operativ-anästhesiologische und eine internistische Intensivmedizin entstand somit als Gegenpol zum etablierten Schockraumkonzept von traumatologischen Patient:innen entsprechend dem Weißbuch „Schwerverletztenversorgung“ der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie [11] das Weißbuch „Versorgung kritisch kranker, nicht-traumatologischer Patient:innen im Schockraum“ der DGINA. In diesem Weißbuch wurden folgende Aspekte definiert: Schockraumalarmierungskriterien, Übergabestruktur und -ablauf, Ausstattungsmerkmale, Zusammensetzung des Schockraumteams, Versorgungskonzepte sowie weitere Aspekte (z.?B. nicht-traumatologische Großschadensereignisse, Qualitätssicherung, Entwicklung von Qualitätsindikatoren) [12]. Außerdem entwickelte die DGINA ein eigenes Kurssystem (Advanced Critical Illness Life Support – ACiLS), das Ärzten und Pflegepersonen die wichtigsten Prinzipien der Erstversorgung kritisch kranker nicht-traumatologischer Patient:innen im Schockraum vermittelt [13].
In zwei Observationsstudien an der Zentralen Notaufnahme im Universitätsklinikum Leipzig wurde die Schockraumversorgung von kritisch kranken nicht-traumatologischen Patient:innen prospektiv über einen Zeitraum von jeweils einem Jahr untersucht. Von allen Patient:innen der Zentralen Notaufnahme wurden 1,6 bzw. 1,3?% als kritisch kranke nicht-traumatologische Patient:innen im Schockraum behandelt. Fast alle dieser Patient:innen wurden durch den Rettungsdienst direkt in den Schockraum eingeliefert (93,6 bzw. 93,7?%). Die Dauer der Schockraumbehandlung betrug 33?±?23 bzw. 31?±?22?min, die 30-Tage Gesamtmortalität 34 bzw. 36,3?%. Der überwiegende Anteil (84,5 bzw. 80,5?%) der Patient:innen wurde aus dem Schockraum auf eine Intensivstation transferiert [14, 15]. Im Kontext der nachfolgenden Diskussion rund um die Bedürfnisse kritisch kranker nicht-traumatologischer Patient:innen sind drei Ergebnisse dieser Studien besonders hervorzuheben:
- Mit ca. 1,5?% wurde nur ein sehr kleiner Anteil der Gesamtpopulation der Notaufnahmepatient:innen im Schockraum behandelt. Es ist daher wahrscheinlich, dass Patient:innen mit milden bzw. moderaten Schweregraden einer kritischen Erkrankung nicht im Schockraum behandelt wurden.
- Die Aufenthaltsdauer von durchschnittlich 32?min deutet auf einen raschen Behandlungsablauf hin, schließt aber die Möglichkeit einer Reversierung einer kritischen Erkrankung nahezu aus.
- Entsprechend mussten fast alle im Schockraum behandelten Patient:innen zur weiteren Behandlung auf eine Intensivstation verlegt werden.
Die äußerst kurze Aufenthaltsdauer muss vor dem Hintergrund des Beschlusses des Gemeinsamen Bundeausschusses zur gestuften Notfallversorgung diskutiert werden, der eine Aufnahmebereitschaft für Intensivpatient:innen auf die Intensivstation innerhalb von 60?min nach Krankenhausaufnahme vorsieht [11]. Allerdings berichtete eine andere Studie aus Deutschland über eine durchschnittliche Aufenthaltsdauer im Schockraum von 148?±?202?min bei 243 kritisch kranken nicht-traumatologischen Patient:innen (1,2?% aller Patient:innen einer Notfallabteilung). Trotz dieser längeren Aufenthaltsdauer wurden alle Patient:innen auf eine Intensivstation transferiert oder verstarben im Schockraum [16].
Welche Erstversorgung benötigen kritisch kranke Patient:innen in der Notfallabteilung?
Auch wenn eine möglichst frühe Behandlung bei allen kritisch kranken Patient:innen zu einem besseren Outcome führt [17], unterscheiden sich sowohl die Anforderungen dieser Patient:innen an die Erstversorgung als auch an die Zeit, innerhalb der eine kritische Erkrankung reversiert werden kann, voneinander. Beispielhaft sollen nachfolgend ein polytraumatisierter Patient mit hämorrhagischem Schock, ein Patient mit hypertensivem Lungenödem/SCAPE und ein onkologischer Patient mit Sepsisverdacht gegenübergestellt werden:
- Bei blutenden Mehrfachverletzten sind die umgehende Sicherung der Vitalfunktionen sowie die schnellstmögliche Diagnostik und Kontrolle der Blutungsquelle entscheidend für den Therapieerfolg. Bei optimaler Erstversorgung können polytraumatisierte Patient:innen so rasch und suffizient stabilisiert werden, dass die Aufnahme auf einer Intensivstation vermieden werden kann.
- Patient:innen mit hypertensivem Lungenödem profitieren von einer möglichst frühen nichtinvasiven Beatmung sowie antihypertensiven Therapie mit hochdosiertem Nitroglyzerin oder Urapidil. Werden diese Therapien ohne Verzögerung eingeleitet, kann die respiratorische Funktion dieser Patient:innen in vielen Fällen nach wenigen Stunden soweit stabilisiert werden, dass keine weitere mechanische Atemunterstützung erforderlich ist und die Aufnahme auf einer Intensivstation vermieden werden kann.
- Bei onkologischen Patient:innen mit Sepsisverdacht müssen nicht nur die Vitalfunktionen umgehend stabilisiert, mikrobiologische Kulturen abgenommen und eine Antibiose eingeleitet, ein vermuteter Sepsisfokus identifiziert und gegebenenfalls kontrolliert werden, sondern auch die Prognose der onkologischen Grunderkrankung und der Wunsch der Patient:innen nach einer intensivmedizinischen Behandlung evaluiert werden. Abhängig von den Ergebnissen dieser Erhebungen kann sich der weitere Verlauf zwischen rascher Stabilisierung der Vital?/Organfunktionen und Verlegung auf eine Bettenstation, einer fortgesetzten intensivmedizinischen Behandlung mit Aufnahme auf der Intensivstation und einer Therapiezieländerung unterscheiden.
Würden diese drei kritisch kranken Patient:innen nach einem einheitlichen traumatologischem bzw. nicht-traumatologischem (konservativem) Behandlungsprotokoll mit raschestmöglicher Transferierung auf eine Intensivstation verlegt werden, würde dies zwar den Anforderungen polytraumatisierter Patient:innen optimal entsprechen, bei Patient:innen mit hypertensivem Lungenödem aber zu einer wahrscheinlich vermeidbaren und bei onkologischen Patient:innen mit einer eventuellen Patient:innen-zentrierten Therapiebegrenzung sogar zu einer potenziell unerwünschten Aufnahme auf eine Intensivstation führen.
Aus den Beispielen ergibt sich, dass das Zeit-fokussierte Diagnostik- und Behandlungsschema in einem Schockraum vor allem auf die Versorgung von kritisch kranken traumatologischen Patient:innen zugeschnitten ist, aber nicht die Bedürfnisse aller kritisch kranken Notfallpatient:innen abdeckt. Gerade gerontotraumatologische Patient:innen, bei denen unmittelbar lebensbedrohliche Verletzungen ausgeschlossen werden konnten, bedürfen häufig einer vorübergehenden (z.?B. wenige Stunden andauernden) Stabilisierungs- oder Überwachungsphase, bis sie sicher auf eine Überwachungs- oder Bettenstation transferiert werden können. Gleiches gilt für prähospital oder für Akutinterventionen sedierte bzw. analgesierte Traumapatient:innen. Das Zeit-fokussierte Diagnostik- und Behandlungsschema im Schockraum ist auch eine gute Strategie für kritisch kranke nicht-traumatologische Patient:innen ohne Aussicht auf rasche Reversierung der Organdysfunktion(en). Insgesamt betrachtet stellen gerade kritisch kranke nicht-traumatologische Patient:innen zusätzliche und andere Anforderungen an den Umfang und die Dauer der intensivmedizinischen Versorgung in der Notfallabteilung als kritisch kranke traumatologische Patient:innen.
Intensivmedizinischer Behandlungsbereich in der Notfallabteilung
Um den Bedürfnissen aller kritisch kranker Patient:innen in der Notfallabteilung gerecht zu werden, bedarf es eines Behandlungsbereichs mit mehreren Positionen, auf welchen sämtliche intensivmedizinischen Diagnostik- und Behandlungsmodalitäten zur Verfügung stehen und Behandlungsschema sowie Aufenthaltsdauer an die individuellen Bedürfnisse der einzelnen Patient:innen angepasst werden können. Die Art und Zahl der Behandlungsplätze in einem solchen Bereich sind der Population der jeweiligen Notfallabteilung anzupassen. In einem intensivmedizinischen Behandlungsbereich können kritisch kranke Patient:innen sowohl mit nicht-traumatologischen als auch traumatologischen Pathologien bis zu ihrer sicheren Weiterbehandlung – innerhalb von wenigen Minuten bis zu mehreren Stunden – optimal erstversorgt und stabilisiert werden (Abb. 1). Abhängig von der Größe und den organisatorischen Anforderungen des Krankenhauses können diese intensivmedizinischen Behandlungsbereiche auch für die Versorgung von innerklinischen Notfallpatient:innen oder für die sofortige Übernahme von sekundär transferierten kritisch kranken Patient:innen [18] verwendet werden.
Abb. 1: Intensivmedizinischer Behandlungsbereich in der Klinik Floridsdorf in Wien (a), im Allgemeinen Krankenhaus Wien (b) und am Kepler Universitätsklinikum in Linz (c)
Die personelle Besetzung solcher intensivmedizinischen Behandlungsbereiche muss sich bis zur Etablierung eines Facharztes für Notfallmedizin und einer Sonderausbildung für Notfallpflege an den lokalen personellen Gegebenheiten der einzelnen Krankenanstalten orientieren. Oberstes Ziel muss dabei sein, einen solchen Bereich mit einer ausreichenden Anzahl an Ärzt:innen und Pflegepersonen zu besetzen, die in der Versorgung von kritisch kranken Patient:innen ausgebildet und erfahren sind. Hierbei ist weniger das Facharztzeugnis als vielmehr die breite notfallmedizinische Kompetenz von Relevanz.
In mehreren amerikanischen Notfallabteilungen wurden intensivmedizinische Behandlungsbereiche in den letzten Jahren in Betrieb genommen. Diese wurden unterschiedlich organisiert und bezeichnet und verfügen über eine variable Anzahl an Behandlungsplätzen. Tab. 1 gibt einen exemplarischen Überblick über ausgewählte, in Publikationen erwähnte intensivmedizinische Behandlungsbereiche in den USA [19] und Österreich. In Vorher-Nachher Studien konnten wiederholt zahlreiche medizinische, organisatorische und ökonomische Vorteile dieser intensivmedizinischen Behandlungsbereiche aufgezeigt werden (Tab. 2; [17, 20]).
Tab. 1: Beschreibung von sechs verschiedenen intensivmedizinischen Behandlungsbereichen in Notfallabteilungen an drei U.S. amerikanischen (adaptiert nach Leibner E, et al. [19]) und drei österreichischen Krankenhäusern
Tab. 2: Evidenzbasierte Vorteile von intensivmedizinischen Behandlungsbereichen in Notfallabteilungen [20]
Mehr frühzeitige intensivmedizinische Behandlungen für kritisch kranke Notfallpatient:innen |
Reduktion der Intensivstationsaufnahmen von der Notfallabteilung, insbesondere von kritisch kranken Notfallpatient:innen mit leichtem bis mittelschwerem Krankheitsverlauf (z.?B. gastrointestinale Blutung oder Sepsis) |
Reduktion der Intensivstationsaufnahmen von der Notfallabteilung zu reinen Überwachungszwecken |
Reduktion der Intensivstationsaufnahmen von kritisch kranken Patient:innen, die zuvor von der Notfallabteilung auf Bettenstationen verlegt wurden |
Kürzere Verweildauer auf der Intensivstation für kritisch kranke Patient:innen, die von der Notfallabteilung auf der Intensivstation aufgenommen wurden |
Erhöhung der freien Bettenkapazitäten auf der Intensivstation für kritisch kranke Patient:innen aus anderen Bereichen als der Notfallabteilung |
Reduktion der Aufenthaltsdauer im Krankenhaus |
Reduktion der Sterblichkeit von kritisch kranken Notfallpatient:innen innerhalb der ersten 24?h, auf der Intensivstation, im Krankenhaus, nach 30 Tagen, nach 60 Tagen und nach 365 Tagen |
Kostenneutralität bzw. Kostensenkung |
In Österreich wurde bereits 1991 in der damals neu eröffneten Universitätsklinik für Notfallmedizin am AKH Wien ein intensivmedizinischer Behandlungsbereich eingerichtet, allerdings nur für nicht-traumatologische Patient:innen. Dieser Bereich verfügt über sieben voll ausgestattete Intensivbehandlungsplätze, die in zwei Behandlungsräumen untergebracht sind [21]. Eine retrospektive Analyse (1993–1995) ergab, dass 5?% aller nicht-traumatologischen Notfallpatient:innen (n?=?5150) in diesem intensivmedizinischen Behandlungsbereich versorgt wurden, entweder mit einer stabilen (n?=?3652) oder instabilen (n?=?1498) akut lebensbedrohlichen Erkrankung. Die Gesamtaufenthaltsdauer in dem intensivmedizinischen Behandlungsbereich betrug 1,6 bzw. 1,9 Tage. Nach diesem Aufenthalt war eine weitere intensivmedizinische Versorgung nur noch bei 11,1?% der Patient:innen erforderlich. Die restlichen Patient:innen konnten entweder auf eine Bettenstation transferiert werden (51,2?%), wurden entlassen (31,8?%) oder verstarben in der Notfallabteilung (5,4?%) [22].
Am Kepler Universitätsklinikum in Linz wurde 2016 ein intensivmedizinischer Behandlungsbereich mit zwei voll ausgestatten Intensivbehandlungsplätzen zusätzlich zum traumatologischen Schockraum im Aufnahmebereich eingerichtet. Seit Inbetriebnahme wurden – mit Unterbrechung während der COVID-19 Pandemie – 2147 kritisch kranke nicht-traumatologische Notfallpatient:innen in diesem Bereich behandelt. Diese wurden in 72,5?% der Fälle aus der ZAE, in 15?% von einer Bettenstation, in 6,6?% direkt vom Rettungsdienst und in 3?% aus anderen Bereichen des Krankenhauses in den intensivmedizinischen Behandlungsbereich zugewiesen. Nach einer durchschnittlichen Aufenthaltsdauer von drei Stunden und vierzehn Minuten konnten 47?% der Patient:innen soweit stabilisiert werden, dass die Aufnahme auf einer Intensivstation vermieden und die Patient:innen auf eine Bettenstation transferiert werden konnten. 45?% der Patient:innen mussten auf einer Intensivstation weiterbehandelt werden, 4?% verstarben, 2?% wurden nach Hause entlassen und 2?% in andere Krankenanstalten transferiert.
Literatur
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erschienen in ANÄSTHESIE NACHRICHTEN 3/2024