Jetzt zusammenhalten, Infektionsausbreitung im Interesse aller entschlossen zurückdrängen
„Im Mittelpunkt der aktuellen Diskussionen über die Pandemie-Entwicklung steht aus gutem Grund die hohe und weiterhin ansteigende Zahl von schwer kranken COVID-19-Patientinnen und -Patienten, die eine intensivmedizinische Behandlung benötigen. Wir machen uns aber auch große Sorgen um die zahlreichen Nicht-COVID-19-Patientinnen und -Patienten, die von einer Überlastung von Intensivkapazitäten betroffen sind,“ sagt der Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI), Univ.-Prof. Dr. Walter Hasibeder (Zams). „Ob es Akutfälle sind, die intensivmedizinische Versorgung benötigen, wie die Folgen eines schweren Unfalls oder einer schweren Infektion, oder nicht akut lebensnotwendige, aber medizinisch erforderliche Operationen, die verschoben werden müssen: Immer mehr Menschen könnten und werden von der mehr als angespannten Versorgungslage betroffen sein.“
Insbesondere im Osten Österreichs sind bekanntlich, vor allem aufgrund der Dominanz der B.1.1.7-Variante des SARS-CoV-2 Virus, die Intensivstationen stark belastet. In Wien etwa ist mit einer Zahl von 191 COVID-19-Intensivpatientinnen und -patienten am Sonntag der Peak der zweiten Pandemiewelle bereits deutlich überschritten, allerdings bei weiterhin steigender Tendenz. „Um die Konsequenzen solcher Spitzenbelastungen richtig einzuschätzen muss man sich vor Augen führen, wie Intensivstationen funktionieren“, so Univ.-Prof. Dr. Klaus Markstaller (Wien), Past Präsident der ÖGARI. „Auch ganz ohne Zusatzbelastungen wie eine Pandemie oder einen Katastrophenfall sind die Kapazitäten hier regelhaft zu etwa 85 bis 90 Prozent ausgelastet. Oder anders gesagt, wir haben einen Puffer von etwa 10 bis 15 Prozent. Alles andere wäre ja auch eine Vergeudung der teuersten Ressource eines Krankenhauses.“
Solange sich die Zahl der COVID-19-bedingten Intensivaufnahmen im Rahmen dieser 10 bis 15 Prozent der Gesamtressourcen bewegt, ist ein weitgehender Normalbetrieb gewährleistet, erklärt Prof. Markstaller. „Geht das Ausmaß der Zusatzbelastung darüber hinaus, bewegen wir uns schrittweise in einen Krisenmodus, der sich je nach Ausmaß zunehmend stärker in anderen Bereichen des Spitalsbetriebes bemerkbar macht.“
Die ÖGARI habe seit Monaten darauf hingewiesen, dass die veröffentlichte Darstellung von angeblich erheblichen freien Intensivbetten-Kapazitäten ein falsches Bild vermittle, das nicht der Realität entspreche, so Prof. Hasibeder. „So etwas wie freie Intensivbetten gibt es schon zu ‚normalen‘ Zeiten kaum, und schon gar nicht während einer Pandemie.“
System kann viel kompensieren – aber irgendwann dekompensiert es
„Natürlich haben wir von Beginn der Krise an alle erdenklichen Maßnahmen ergriffen und tun dies auch weiterhin, um die bestehenden Intensivressourcen im Rahmen des Möglichen auszuweiten. Das erfolgt etwa durch die Umwidmung von Aufwachräumen in Intensivbettenstationen, die Mobilisierung von Personal aus anderen Bereichen, die Erweiterung der technischen Ausstattung, oder die Aufrüstung von Normalstationen mit ‚High Flow‘-Sauerstoffsystemen, um Patientinnen und Patienten mit moderatem Sauerstoffmangel nicht sofort auf einer Intensivstation aufnehmen zu müssen“, sagt Prof. Markstaller. Dass es nach der bedrohlichen zweiten Welle jetzt neuerdings so eng wird auf den Intensivstationen – und den aktuellen Prognosen zufolge noch belastender werden wird – sei nicht Folge fehlender Vorsorge, so der Experte. „Eine gewisse Ausweitung ist möglich, und wurde auch durchgeführt. Doch eine solche Ausweitung hat natürlich Grenzen durch die personellen Ressourcen, die nicht beliebig vermehrbar sind. Intensivmedizin und -pflege sind hochspezialisierte Aufgaben, die eine mehrjährige Ausbildung erfordern.“
Das System könne sehr viel kompensieren, so Prof. Markstaller, „nicht zuletzt durch den enormen Einsatz der Kolleginnen und Kollegen. Aber irgendwann dekompensiert es dann. Die ÖGARI hat wiederholt davor gewarnt, dass eine solche Situation eintreten könnte“.
Überbelastung geht auf Kosten vieler Patientinnen und Patienten mit und ohne COVID-19
Es sollte allen bewusst sein, so Prof. Hasibeder, auf wessen Kosten eine zu hohe Belastung von Intensivkapazitäten gehe, nämlich „auf Kosten vieler, vieler Patientinnen und Patienten, mit und ohne COVID-19.“
Auf den Intensivstationen, so zeigen mehrere Studien, steigt mit dem Grad der Be- bzw. Überlastung die Sterberate der versorgten Patientinnen und Patienten. Der Aufbau zusätzlicher Intensivkapazitäten bedeutet auch, dass Personal aus anderen Bereichen abgezogen werden muss, vorwiegend Anästhesiepersonal – und das führt zwangsläufig zu einer Reduktion der Zahl chirurgischer Eingriffe. Geplante Operationen, für die wegen des Umfangs des Eingriffs ein Intensivbett bereitgehalten werden muss, werden verschoben. Dies betrifft auch Eingriffe, die zwar nicht lebensnotwendig sind, aber wegen belastender Beschwerden der Patientinnen und Patienten ehestmöglich durchgeführt werden sollten. Es kann auch bedeuten, dass andere Bereiche für chronisch kranke Menschen wie Schmerzambulanzen aus Personalmangel nicht offengehalten werden können. Sind alle Erweiterungspotenziale der Intensivstationen erschöpft und hält der hohe Bedarf an, müssen sogenannte Überbelagsbetten geschaffen werden – das bedeutet, dass zwar weitere Intensivplätze geöffnet werden, aber ohne, dass zusätzliches Personal zur Verfügung steht. Im schlimmsten Fall steht am Ende einer Überlastung der Kapazitäten die „harte Triage“.
„Die sogenannten Kollateralschäden und anderen negativen Auswirkungen überlasteter Intensivstationen auf Patientinnen und Patienten mit und ohne COVID-19 sind keine Folge eines ‚falschen‘ Pandemiemanagements“, betont Prof. Markstaller. „Sie sind einzig und allein Folge zu hoher Infektionszahlen, die zwangsläufig zu hohen Zahlen von COVID-19-Patientinnen und -Patienten in stationärer Betreuung führen. Das ist bis zu einem gewissen Grad schicksalshaft, ab einem gewissen Grad aber nachweislich durch unser aller Verhalten beeinflussbar.“
Die Folgeschäden im Gesundheitssystem, die letztlich jede und jeden treffen können, „können wir nur gemeinsam abwenden“, unterstreicht ÖGARI-Präsident Prof. Hasibeder. „Jetzt ist nicht der Zeitpunkt für Partikularinteressen oder einen nachlässigen Umgang mit den Distanz- und Hygieneregeln, die wir alle nur allzu gut kennen. Wenn wir jetzt nochmals in einem gemeinsamen Kraftakt die Infektionszahlen senken, auch bis Impfungen ihr Schutzschild entfalten können, schützen wir uns letztlich alle.“
Quelle: Pressemitteilung der ÖGARI von 29.03.2021