Universum Innere Medizin, 19.12.2023 (S. 82,83)

  • Physiotherapie ist ein wesentlicher Teil der interprofessionellen Frührehabilitation von Intensivpatient:innen.
  • Der Einsatz von Physiotherapeut:innen auf Intensivstationen steigert nachweislich das funktionelle Outcome von Patient:innen zum Zeitpunkt der Entlassung aus der Intensivstation. 
  • Je aktiver sich Intensivpatient:innen am Ende des Aufenthaltes bewegen können, desto höher ist das weitere Reha-Potenzial und die funktionsbezogene Lebensqualität.

Die moderne Intensivmedizin ermöglicht für einige Menschen das Überleben einer schweren Erkrankung (z. B. Sepsis) oder einer schweren Verletzung (z. B. Polytrauma). Organsysteme können unterstützt oder für eine gewisse Zeit ganz ersetzt werden, um dem Körper Zeit zur Heilung zu geben.” und dann wird alles gut?! Leider nicht ganz!”

Hintergrund

Intensivpatient:innen, die eine schwere Erkrankung oder Verletzung überleben, müssen mit massiven Folgewirkungen des eigentlichen Intensivaufenthaltes kämpfen. Bedingt durch die mitunter tiefe Sedierung, die Immobilisation und die insgesamt ungesunde Umgebung einer Intensivstation (ungewohnte Abläufe, Lärm, Licht, Tag-Nacht-Rhythmus u. v. a.) ergibt sich eine Vielzahl von Symptomen, welche die Funktionalität, die Rehabilitation und damit die Lebensqualität der Patient:innen massiv beeinflusst.

Das Post-Intensive-Care-Syndrom (PICS) beschreibt die Beeinträchtigungen, die Intensivpatient:innen, bedingt durch den Aufenthalt auf einer Intensivstation, entwickeln und die sie über Jahre hinaus begleiten können. Diese Einschränkungen finden auf physischer, kognitiver und mentaler Ebene statt.

Frührehabilitation und Frühmobilisation

Die interprofessionelle Frührehabilitation ist ein umfassendes Konzept, um die Folgewirkungen eines PICS möglichst gering zu halten. Unterschiedliche Studien, Reviews und Metaanalysen konnten die diesbezügliche Wirksamkeit nachweisen. Die Physiotherapie entwickelte sich in den letzten Jahren immer mehr zum wichtigen Partner im interprofessionellen Intensivteam. Maßnahmen aus der Atemphysiotherapie, der Bewegungstherapie und der Frühmobilisation mit passiven wie auch aktiven Techniken leisten einen wesentlichen Beitrag zur Frührehabilitation.

Als Frühmobilisation gelten alle bewegungsfördernden Maßnahmen, die innerhalb von 72 Stunden nach Aufnahme auf der Intensivstation initiiert werden. Sowohl die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv-und Notfallmedizin für Intensiv (DIVI) als auch die Österreichische Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI) empfehlen den täglichen Einsatz von Physiotherapeut:innen auf den Intensivstationen im Umfang von 30 bzw. 48 Minuten pro Intensivpatient:in.

In Österreich gibt es noch keine klaren gesetzlichen Vorgaben in Form eines verpflichtenden Personalschlüssels für Physiotherapie im Krankenhaus. Die Notwendigkeit des regelhaften Einsatzes von Physiotherapeut:innen im intensivmedizinischen Setting zeigt sich allerdings in den oben genannten Empfehlungen verschiedener intensivmedizinischer Gesellschaften und in einzelnen Guidelines. Hodgson et al. haben bereits 2018 nachgewiesen, dass die Frühmobilisation im interprofessionellen Intensivteam mit einer Inzidenz von <2 % an unerwünschten Ereignissen grundsätzlich sicher durchführbar ist. Voraussetzung dafür ist neben der Implementierung eines Mobilisationskonzeptes die Risikostratifizierung mittels eines an die jeweilige Station adaptierten Ampelsystems.

Der physiotherapeutische Prozess

Auch bei Intensivpatient:innen orientiert sich die physiotherapeutische Behandlung am sogenannten physiotherapeutischen Prozess. Auf Grundlage der Befunderhebung und Erstellung der physiotherapeutischen Diagnose werden die individuellen Therapieziele geplant. Die Behandlungsplanung erfolgt in interprofessioneller Rücksprache anhand eines Mobilisations-bzw. Atemphysiotherapiekonzeptes, das die entsprechenden physiotherapeutischen Maßnahmen enthält. Nach jeder Behandlung werden die Ergebnisse geprüft und der Behandlungsplan bei Bedarf angepasst. Damit die Problemidentifizierung, die Planungs-und Umsetzungsphase sowie die phasenübergreifende Dokumentation funktioniert, werden adäquate physiotherapeutische Assessments herangezogen. Eine Prämisse dabei ist, dass die Assessments im Rahmen der Physiotherapie evidenzbasiert, bettseitig durchführbar und möglichst schnell eingesetzt werden können. Damit wird einerseits ein praktikabler Einsatz und andererseits eine hohe Aussagekraft für die Praxis erreicht.

CPAX-GE: Neben einem interprofessionellen Schmerz-und Delirmanagement werden daher Assessments und Parameter aus der Beatmungsmedizin sowie der Atemphysiotherapie und zusätzlich spezifische physiotherapeutische Assessments für Intensivpatient:innen (z. B. CPAX-GE; Chelsea critical Care physical Assessment Tool) verwendet.

Beim CPAX-GE werden anhand von 10 Items die Bereiche Atemfunktion, Husten, Bewegungsfähigkeit im Bett, Bewegungsübergänge bis zum Gehen und Kraftfähigkeit mit je 1 bis 5 Punkten beurteilt. Die Anzahl von 0 Punkten bedeutet die komplette funktionelle Abhängigkeit in allen Bereichen, und 50 Punkte erreichen funktionell unabhängige Patient:innen. Bei einem Wert von > 17 Punkten zum Zeitpunkt der Entlassung aus der Intensivstation gibt es die statistische Tendenz, dass die Patient:innen innerhalb von 90 Tagen nach Hause kommen. Die QR-Codes in der Box führen zur Originalarbeit (Open Access) und zu einem strukturierten kostenfreien E-Learning zum CPAX-GE.

Die physiotherapeutische Behandlung im Intensivsetting

Neben der frühestmöglichen Spontanatmung bzw. Entwöhnung von der Beatmung (Weaning) ist die frühestmögliche Eigenaktivität bei Intensivpatient:innen anzustreben. Weitere Ziele sind die Vermeidung bzw. Reduktion von ICU-acquired Weakness (Muskelschwäche) und dem ICU-Delir. Das bestmögliche funktionelle Outcome bei Entlassung von der Intensivstation ist die Basis für alle weiteren Reha-Maßnahmen und der späteren funktionsbezogenen Lebensqualität.

Die individuellen Belastungsgrenzen in der jeweiligen Mobilisationssituation werden von den Physiotherapeut:innen in Kooperation mit der zuständigen Intensivpflege und den Intensivmediziner:innen im interprofessionellen Team abgestimmt. Zum Einsatz kommen neben verschiedenen belastungsabhängigen Parametern auch Scores und Trends aus der Beatmungsmedizin. Beispielsweise zeugt eine hohe Atemfrequenz von > 30 ×/min von einem kurzfristig hohen Energiebedarf, v. a. in Verbindung mit einem starken inspiratorischen Einsatz der sekundären Atemmuskulatur (“Ziehen”). Aus der Beatmungsmedizin wird die P0.1-Occlusion-Messung, der ROX-Index sowie der Rapid shallow Breathing Index zur Beurteilung der Belastungsfähigkeit verwendet. Die Borg-CR10-Dyspnoeskala bildet in Verbindung mit ggf. kurzfristigen Laktaterhöhungen die tatsächliche momentane Anstrengung von Intensivpatient:innen in der Therapiesituation ab. Durch den Einsatz dieser Belastungsassessments kann die Therapie so gestaltet werden, dass sie weder unterschwellig noch überschwellig ist. Damit wird eine optimale funktionelle Verbesserung im Rahmen der Trainingstherapie erreicht.

Resümee

Als Basis für die physiotherapeutische Frühmobilisation bei Intensivpatient:innen dient ein interprofessionelles Mobilisationskonzept, in das ein evidenzbasiertes Risikomanagement in Form eines Ampelsystems eingebettet ist. Darüber hinaus müssen die intensivmedizinischen Zugänge und Leitungen so positioniert werden, dass die geplanten Maßnahmen (z. B. Querbettsitz) gefahrlos durchgeführt werden können. Die Wirksamkeit der physiotherapeutischen Behandlung zeigt sich, wenn die Funktionalität und damit die Selbstwirksamkeit der Patient:innen im Verlauf des Intensivaufenthaltes besser wird. Im Optimalfall können sie wieder selbständig atmen, und die Partizipation und Aktivität im Alltag bezüglich ADLs (Activities of daily Living) sind uneingeschränkt möglich.

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