Univ.-Prof.in Drin B. Friesenecker und Univ.-Prof. W. Hasibeder im Interview zu Fragen der Patient:innenverfügung und der Forderung nach einem Patient:innenverfügungsregister
Frage: Frau Professorin Friesenecker, Sie sind Vorsitzende der ARGE Ethik der ÖGARI. Zuletzt gab es einen Artikel in den Salzburger Nachrichten[1], der nicht nur Erstaunen, sondern gar zu blankem Entsetzen innerhalb der ÖGARI geführt hat. Was sind in der ÖGARI die zentralen Ansätze zum Thema der Patient:innenverfügung und Vermeidung von Übertherapie? Wie sieht das in der Praxis aus?
Frau Univ.-Profin Drin. Barbara Friesenecker: Uns hat der Inhalt und die Kernaussage des Artikels tatsächlich sehr erschüttert. Meine Kollegen:innen, der Präsident der ÖGARI, Univ.-Prof. Dr. Walter Hasibeder und ich, wir alle haben uns dazu Gedanken gemacht. Ich darf ausholen: Wir leben in einem Zeitalter großer medizinischer Machbarkeit, was uns einerseits in die Lage versetzt, vielen Menschen, die früher nach schwerer Krankheit sicher gestorben wären, in ein gutes Leben zurückzuhelfen. Andererseits haben wir aber über die letzten Jahrzehnte verabsäumt, gleichzeitig ein praktisches ethisches Regelwerk zu entwickeln, welches uns ermöglicht, durch eine rechtzeitige Therapiezieländerung Übertherapie und deren Folge, die chronisch kritische Erkrankung als Folge von schlechter medizinischer Entscheidungsfindung zu verhindern. Zu spät oder gar nicht getroffene Entscheidung führen zu einem Hinauszögern des Sterbeprozesses. Menschen haben Angst in die »Mühlen moderner Medizin« zu geraten, wo sie dann verlängert leiden müssen und nicht in Würde sterben dürfen.
Frage: Wie ist denn die rechtliche Lage in Österreich dazu. Kann ein/e Patient:in den Abbruch einer begonnenen Behandlung fordern, z.B. wenn absehbar ist, dass das ursprünglich geplante Therapieziel nicht erreicht werden kann, wie Heilung oder zumindest der Gewinn von Lebenszeit mit der gewünschten Lebensqualität?
Frau Univ.-Profin Drin. Barbara Friesenecker: Ethisch und auch rechtlich ist es ganz klar, dass eine rechtzeitige Therapiezieländerung von Heilung in Richtung Palliativmedizin – und damit auch Sterben – jederzeit nicht nur erlaubt, sondern geboten ist, wenn es keine Indikation/kein sinnvolles Therapieziel mehr für eine unter Umständen noch technisch mögliche Behandlung gibt oder wenn der/die Patient:in eine Behandlung ablehnt. Entgegen der Behauptung in den Salzburger Nachrichten wollen wir daher richtigstellen, dass der Abbruch einer begonnenen Behandlung (Withdraw) aufgrund fehlender Indikation/Therapieziel bzw. auf Basis des geäußerten Patient:innenwillens (mündliche oder schriftliche Patient:innenverfügung) NICHTS mit MORD zu tun hat, sondern ein ethisch und rechtlich gebotenes Vorgehen ist. Ebenso ist es aus genannten Gründen auch erlaubt und geboten, eine medizinische Maßnahme nicht mehr zu beginnen („Withhold“) – völlig unabhängig davon um welche es sich handelt. Der/die behandelnde Ärzt:in hat dann im Rahmen einer Therapiezieländerung dafür Sorge zu tragen, dass für den Sterbeprozess, der ja sehr unterschiedlich lange dauern kann, eine palliativmedizinische Versorgung gewährleistet wird (sog. „Comfort Terminal Care“), um Menschen am Ende ihres Lebens in guter ärztlicher/pflegerischer Versorgung mit einer bestmöglichen Symptomkontrolle ein »Sterben in Würde« zu ermöglichen (d.h. ein begleitetes Sterben ohne Angst, Stress, Schmerzen und Atemnot).
In dem im Artikel besprochenen Fall hätte man also selbstverständlich nach Beibringung der Patient:innenverfügung bzw. nach Überbringung des mutmaßlichen Patient:innenwillens – am besten durch einen/eine Stellvertreter:in nach dem neuen Erwachsenenschutzgesetz – die Behandlung abbrechen und den/die Patient:in im Rahmen einer »Comfort Terminal Care« unter guter palliativmedizinischer Begleitung versterben lassen dürfen und müssen. Das hat – wie oben erläutert – NICHTS mit Mord zu tun und ist ethisch und rechtlich sogar geboten.
Frage: Wie ist es nunmit derPatient:innenautonomie. Wann ist diese aus ärztlicher Sicht zu respektieren?
Frau Univ.-Profin Drin. Barbara Friesenecker: Die Patient:innenautonomie ist immer zu respektieren. Wenn eine klar ersichtliche Willensäußerung eines/einer Patient:in vorliegt, in der eine bestimmte medizinische Handlung abgelehnt wird (z.B. verbindliche, aber auch nicht-verbindliche Patient:innenverfügung, oder vor Zeugen mündlich oder durch Gestik geäußerter Patient:innenwille), so darf diese nach Aufklärung über die Konsequenzen (bis hin zum Sterben) nicht durchgeführt werden – selbst dann nicht, wenn es eine medizinische Indikation und ein sinnvolles Therapieziel gäbe. In der Ethik sprechen wir vom sog. „Recht auf Unvernunft“.
Frage: Wie wichtig ist aus Ihrer bzw. Sicht der ARGE Ethik der ÖGARI Sicht eine vorausschauende Planung für den Fall, dass man nicht mehr für sich selbst sprechen kann?
Frau Univ.-Profin Drin. Barbara Friesenecker: Menschen könnten und sollten ihre Wünsche und Wertvorstellungen zu einem Zeitpunkt schriftlich festhalten, an dem sie gut für sich selbst sprechen können. Im Rahmen einer Patient:innenverfügung können Behandlungen ganz oder teilweise abgelehnt werden. In Österreich haben nur ca. 4% der Bevölkerung eine verbindliche Patient:innenverfügung. Die ARGE Ethik der ÖGARI empfiehlt die Errichtung einer nicht-verbindlichen Verfügung, idealerweise in Verbindung mit einer Vorsorgevollmacht, da so das behandelnde Ärzt:innenteam – immer in Rücksprache mit dem/der Vorsorgebevollmächtigten – einen flexibleren Handlungs-, und Entscheidungspielraum hat.
Frage: Stichwort Register, Sie sprechen sich für ein Patient:innenverfügungsregister aus? Was darf man sich darunter vorstellen und wie könnte dieses funktionieren?
Frau Univ.-Profin Drin. Barbara Friesenecker: Derzeit gibt es – anders als beim ‚Widerspruchsregister‘ der Transplantationsmedizin – noch kein einheitliches/verpflichtendes Register für die Erfassung von Patient:innenverfügungen, die derzeit in unterschiedlichen, nicht immer frei zugänglichen Registern z.B. der Notariatskammern – unterschiedlich in den einzelnen Bundesländern – registriert sind. Es wäre derzeit den medizinischen Teams – auch im nicht-Notfall – nicht zumutbar, danach suchen zu müssen. Für die einheitliche Registrierung aller Verfügungen (verbindliche und nicht-verbindliche) wäre demnach das ELGA eine sehr sinnvolle Plattform.
Aus genannten Gründen ist die derzeitige »Bringschuld« für eine Patient:innenverfügung durchaus sinnvoll: Patient:innen müssen für den Fall, dass sie nicht mehr für sich selbst sprechen können, dafür Sorge tragen, dass die Patient:innenverfügung dem behandelnden Ärzt:innenteam zur Kenntnis gebracht wird (z.B. durch Angehörige). In manchen Krankenanstalten ist es durchaus üblich, bei der Aufnahme nach einer bestehenden Patient:innenverfügung/Vorsorgevollmacht zu fragen und diese – so vorhanden – auch im Patient:innendokumentationssystem des Krankenhauses elektronisch zu registrieren und damit für den nicht-Notfall nachsehbar zu machen; relevant vor allem für die Durchführung elektiver, geplanter operativer oder diagnostischer Eingriffe und für alle anderen planbaren medizinischen Behandlungen. Für den nicht-Notfall müssen Ärzt:innen im Krankenhaus, in dem Patient:innenverfügungen und Vorsorgevollmachten bei der Aufnahme registriert werden, diese ausheben bevor sie eine elektive Behandlung indizieren, wenn der/die Patient:in nicht für sich selbst sprechen kann (z.B. auf der Intensivstation).
Frage: Wo würden denn diese Daten zusammenlaufen? Und wäre das für Ärzt:innen wie Patient:innen vor allem bei den sogenannten elektiven (= planbaren, nicht Notfall-,) Eingriffen eine tatsächliche Verbesserung der momentanen Situation?
Frau Univ.-Profin Drin. Barbara Friesenecker: Durch eine zukünftige Registrierung von Patient:innenverfügungen z.B. im ELGA wären diese unkompliziert und damit zeitschonend für die behandelnden Ärzt:innen bei elektiven Eingriffen nachfragbar. Das wäre im Sinne der Datentransparenz sicher sinnvoll und würde medizinische Entscheidungsfindung durch bessere und rechtzeitige Kenntnis der Wünsche und Wertvorstellungen eines/einer Patient:in für die Durchführung elektiver Behandlungen erleichtern. Dies würde auch die Situation verbessern, dass Angehörige Patient:innenverfügung absichtlich erst sehr spät bringen, weil sie Sorge haben, dass Patient:innen mit einer bekannten Patient:innenverfügung unter Umständen schlechter behandelt würden. Eine offizielle Registrierung verbindlicher und nicht-verbindlicher Verfügungen im ELGA wäre also für den nicht-Notfall sehr hilfreich und könnte durchaus eine sog. ärztliche Holschuld – allerdings nur bei elektiven Eingriffen begründen. Zum jetzigen Zeitpunkt eine Holschuld zu fordern ist auch für elektive Eingriffe aus oben genannten Gründen nicht sinnvoll und auch nicht machbar.
Frage: Sie betonen, dass der medizinische Notfall anderen Regeln unterliegt. Ist das so?
Frau Univ.-Profin Drin. Barbara Friesenecker: Ja,im Notfall steht immer zuerst die lebensrettende Versorgung im Vordergrund medizinischen Handelns, sofern es hierzu der zur Verfügung stehenden Entscheidungszeit nach ärztlicher Einschätzung ein Therapieziel und damit eine Indikation gibt.
Frage: Was wünschen Sie sich von den entsprechenden Seiten für die Zukunft der Patient:innenautonomie in Österreich?
Frau Univ.-Profin Drin. Barbara Friesenecker: Zusammenfassend würden wir uns als behandelnde Ärzt:innen sehr wünschen, dass Menschen von ihrem Recht auf Autonomie mehr Gebrauch machen und rechtzeitig Vorsorge treffen würden für den Fall, dass sie nicht mehr für sich selbst sprechen können (wie z.B. bei jedem schwereren Notfall!), indem sie Ihre Wünsche und Wertvorstellungen im Rahmen einer Patient:innenverfügung (unsere Empfehlung am besten als nicht-verbindliche Verfügung) definieren und eine Vertrauensperson benennen (am besten eine/n Vorsorgebevollmächtigte/n bestimmen), mit der die behandelnden Ärzt:innen mögliche Behandlungsoptionen besprechen können um dann dem mutmaßlichen oder geäußerten Willen entsprechend besser im Sinne der Patient:innen entscheiden zu können. In diesem Sinne wäre für Ärzt:innen ein einheitliches Register, in dem Patient:innenverfügungen (verbindliche und nicht-verbindliche) unkompliziert nachgesehen werden könnten, eine große Entlastung und Entscheidungshilfe (z.B. ELGA). Dennoch wird im lebensbedrohlichen Notfall, unter Informationsmangel, Zeitdruck und/oder bei Unklarheit über Indikation und Therapieziel von Ärzt:innen und Sanitäter:innen zuerst nach dem Leitspruch‚ in dubio pro vita (im Zweifel für das Leben) entschieden werden. Es ist aber hoffentlich in diesem Kommentar klar geworden, dass bei fehlender Indikation/Therapieziel oder bei Ablehnung einer Behandlung durch den/die Patient:in oder deren Stellvertreter:in jederzeit eine Behandlung nicht begonnen bzw. wieder abgebrochen werden darf und muss und dies NICHTS mit MORD zu tun hat! Mord ist ein vorsätzliches Tötungsdelikt, während im Rahmen einer Therapiezieländerung durch den nicht-Beginn oder den Abbruch einer nicht mehr indizierten Behandlung das Sterben zugelassen wird, um Leiden nicht zu verlängern bzw. Sterben nicht hinauszuzögern!
Zu den Personen:
Univ.-Profin Drin. Barbara Friesenecker: Anästhesistin, Intensivmedizinerin, Palliativmedizinerin, Medizinische Universität Innsbruck, Vorsitzende der ARGE Ethik der ÖGARI (österreichische Gesellschaft für Anästhesie, Reanimation und Intensivmedizin)
Univ-Prof. Dr. med. Walter Hasibeder: Anästhesist, Intensivmediziner, Krankenhaus St. Vinzenz Zams, amtierender Präsident der ÖGARI und Mitglied der ARGE Ethik der ÖGARI
Innsbruck, Februar 2023
[1] Verfügungen der Patienten verfehlen oft ihre Wirkung“ von Stefan Veigl, SN 4.1.2023, Rubrik Wissen / Gesundheit
Das Recht auf Patientenautonomie und Selbstbestimmung bleibt von Seiten des Gesetzgebers bloß ein “Lippenbekenntnis”, solange Unterdrücken, Zuwiderhandeln und willkürliches Bestreiten einer Patientenverfügung nicht mit Sanktionen belegt ist.