Jahrelang kam die digitale Technik in der Medizin nur in kleinen Schritten voran. SARS-CoV-2 bzw. COVID-19 haben hier bereits viel geändert, ein erheblicher Anteil der nun neu etablierten Prozesse und Techniken werden bleiben, erklärte jetzt Univ.-Prof. Dr. Oliver Kimberger (MedUniWien/AKH), stellvertretender Leiter der Klinischen Abteilung für Anästhesie und Allgemeine Intensivmedizin.

Ausbildung, Fortbildung, Wissenschaft, telemedizinische Anwendung in der Präklinik in Intensivmedizin, Patientenbetreuung in der Anästhesie und die Integration digitaler Daten aus allen medizinischen Bereichen sind hier die wesentlichen Themen.

Eine Zukunft des Konferenzbetriebes?

Bleibt man bei den für alle in Forschung und Wissenschaft Aktiven rund um SARS-CoV-2 wohl am erkennbarsten Veränderungen: Kongresse, Konferenzen, Meetings – nicht mehr „in persona“. „Ich bin sicherlich früher einmal pro Monat zu solchen Veranstaltungen unterwegs gewesen, sehr oft mit dem Flugzeug. Man muss schon sagen: ‚Der persönlichen CO2-Bilanz hilft das nicht‘. Ich habe mir schon vorher gedacht, dass man sicher mehr als die Hälfte aller Meetings auch ohne persönliche Anreise absolvieren könnte“, sagte Prof. Kimberger.

„Was die reine Wissensvermittlung betrifft, wird das virtuelle Meeting sicher auch in Zukunft möglich sein und viel häufiger werden im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie. Für wissenschaftliche Projekte wird man sich vor allem in der Anfangsphase allerdings auch weiterhin persönlich treffen müssen“, erklärte Prof. Kimberger. „Für die Fachgesellschaften und die Konferenzindustrie ist das natürlich aktuell ein Desaster.“ Aber die Möglichkeiten, schnell Videokonferenzen zu organisieren, hätte es längst gegeben. Der Dammbruch sei eben jetzt gekommen. So wird COVID-19 zur Realisierung von zahlreichen bisher machbaren, aber nicht umgesetzten Projekten führen.

Aus- und Fortbildung  

Ähnlich ist das wohl in Aus- und Fortbildung an Institutionen selbst (und wohl auch darüber hinaus). „Wir haben an der Universitätsklinik für Anästhesie und Intensivmedizin in Wien mit COVID-19 die Pflichtfortbildung auf Online-Veranstaltungen umgestellt. Und hier haben sich sehr positive Effekte eingestellt.“

Prof. Kimberger führte hier an: „Wir haben Sitzungen mit bis zu 120 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Das ist zum Teil deutlich mehr als bei den bisherigen Fortbildungen mit persönlicher Anwesenheit. Es gibt keine räumlichen Beschränkungen der Teilnahme. Die Leute trauen sich auch mehr Fragen zu stellen und es gibt mehr statt weniger Interaktion. Wir organisieren das derzeit über Go-to-Meeting. Prinzipiell hat das bis dato extrem gut funktioniert.“ Der stellvertretende Abteilungsleiter hat gerade in der Aus- und Fortbildung auf diesem Gebiet schon vor Jahren Erfahrungen gesammelt. Er war an der Entwicklung einer Softwarelösung („Ausbildungscockpit“) für alle Ausbildungsärzte der Anästhesie federführend beteiligt.

Präklinik

Einen ganz anderen Bereich stellt die digitale Technik in der direkten Patientenversorgung dar. „Präklinisch spricht man hier zum Beispiel von ‚Forward Triage‘. Welche Patientinnen und Patienten müssen wirklich ins Spital, welche sollten – zum Beispiel bei einer Covid-19-Erkrankung – rasch auf eine Intensivstation kommen und dort beatmet werden?“, sagte Prof. Kimberger. Das könne man bis zu einem gewissen Grad anhand von telemedizinisch erhobenen Parametern auch ohne direkten physischen Patientenkontakt entscheiden.

„Das gilt auch für Systeme, über die Patientinnen und Patienten ihren Status bzw. ihre Symptome melden. Wir initiieren aktuell zum Beispiel auch ein Projekt mit der Übermittlung von Vitalparametern an eine ‚Zentrale‘ im Notarztwesen“, sagte der Intensivmediziner.

Der Arzt in Leitungsfunktion am Wiener AKH (MedUni Wien) zitiert dazu auch eine erst vor kurzem im New England Journal of Medicine publizierte Arbeit (Judd E. Hollander und Brendan G. Carr: Virtually Perfect? Telemedicine for Covid-19; Engl J Med 2020; 382:1679-1681; DOI: 10.1056/NEJMp2003539). Dort heißt es zum Beispiel: „Eine zentrale Strategie zur Beherrschung eines plötzlichen Ansturms auf Gesundheitsleistungen ist die ‚Voraus-Triage‘ (Forward Triage) – die Einteilung von Patientinnnen und Patienten bevor sie in die Notfallabteilung kommen. Direkt-telemedizinischer Kontakt zum Patienten (auch On-Demand), eine Strategie des 21. Jahrhunderts für diese ‚Voraus-Triage‘ erlaubt ein effizientes Screening der Patienten, ist Patienten-zentriert und für Selbst-Quarantäne gut anwendbar. Sie schützt Patienten, Klinikerinnen und Kliniker und die Gesellschaft vor Exposition gegenüber COVID-19 und erlaubt Ärztinnen und Ärzten und Patientinnen und Patienten eine Kommunikation rund um die Uhr und an sieben Tagen der Woche.“

Auch die bei COVID-19 potenziell entscheidenden respiratorischen Symptome könnten auf diese Weise gut fernüberwacht werden. Und schließlich könnten entsprechende Systeme auch gesundem Gesundheitspersonal in Heimquarantäne ein Weiterarbeiten ermöglichen.

Die Entwicklung wird weitergehen. So wird auch am Wiener AKH daran gearbeitet, in einem Projekt einen schnellen und einfachen telemedizinischen Datenaustausch einerseits zwischen Intensivstationen, andererseits zwischen Klinik und auswärts tätigen Notärztinnen und Notärzten bzw. Sanitäterinnen und Sanitätern auf die Beine zu stellen. Das kann eine wesentliche Hilfe für die Arbeit am Einsatzort sein und soll auch die wertvolle Ressource der Notärztin bzw. des Notarztes schonen.

Was absehbar ist: in der Präanästhesie das Durchführen von Aufklärungsgesprächen via Telefon – und Videokontakt. „Bisher mussten die Patientinnen und Patienten noch immer für ein persönliches Gespräch an die Klinik kommen mit Wartezeiten und entsprechendem organisatorischem Aufwand.“, erklärte Prof. Kimberger. Bei Vorliegen der entsprechenden Patientendaten für die bevorstehende Anästhesie samt Freigabe – oder sie erfolgt erst im Rahmen des telemedizinischen Kontakts – kann hier aktuell großer Aufwand für Patienten und Ärzte eingespart werden. 

„Innerklinisch“ – Digitale Patientenübergabe

„Innerklinisch“ hat Covid-19 ebenfalls die (digitalen) Uhren neu gestellt. So wird daran gearbeitet, eine telemedizinische Patientenübergabe im Rahmen der an den ICUs tätigen Teams zu optimieren. Bei Fällen wie einer Epidemie ist das im Rahmen der Hygiene-Vorsorgemaßnahmen eine potenziell wichtige Angelegenheit. „Auch wir haben ja zwei Kohorten gebildet, die jeweils zwei Wochen lang gearbeitet haben“, sagte Prof. Kimberger. Über Videokonferenz und telemedizinischen Zugriff auf die Intensivdaten konnte die Informationsweitergabe von einem Team zum nächsten so optimal durchgeführt werden.

Natürlich sei auch ein Arbeiten von Intensivmedizinerinnern und -medizinern von zu Hause aus – und womöglich für mehrere ICUs – etwas, das international am Horizont auftauche, zum Beispiel in den USA – ein Land eine verhältnismäßig geringe Dichte an ausgebildeten Intensivmedizinern aufweist. Da müsse man allerdings darauf achten, dass das nicht zum schnellen Abschöpfen einer „digitalen Dividende“ durch die Zahler de facto primär unter dem Motto „Personaleinsparung mit Qualitätsverlust“ laufe.  

Künstliche Intelligenz und Datenvernetzung

Patientendaten gibt es jetzt schon genug im Gesundheitswesen. Deren Vernetzung und – durch die zunehmende Masse an vorhandenen Informationen – die automatische Analyse über Systeme mit Künstlicher Intelligenz sind ein weiterer Ansatzpunkt.

„Diese Systeme können eine Unterstützung in der klinischen Entscheidungsfindung bieten. Früher oder später werden sie sich sicher durchsetzen“, erwartet der Intensivmediziner. Natürlich gibt es die Problematik, dasseine KI nicht zwangsläufig besser sein kann als die Ärztinnen und Ärzte, von welchen sie „lernt“, aber, das muss man eben bei solchen Anwendungen ganz bewusst beachten und in den Griff bekommen. Ganz sicher werde KI jedenfalls eine wesentliche Rolle in der Anfangsphase, vor allem bei bildgebenden Verfahren spielen.

Das Problem in all dem Datenwust, so Prof. Kimberger: „Viele der Befunde und Aufzeichnungen sind noch zuwenig standardisiert und Freitext-Verarbeitung bleibt weiter eine große Herausforderung für KIs.“ Vor klassisch essayistischen „Arztbriefen“ müssen auch „Dr. Watson & Co.“ mit all ihren enormen Rechenleistungen noch oft kapitulieren. Aber, wie der Wiener Intensivmediziner erklärte: „Wir erleben derzeit Paradigmenwechsel in allen diesen Bereichen.“ (red/WW)