Komplizierte technische Geräte, hinter denen Patientinnen und Patienten im künstlichen Tiefschlaf kaum mehr wahrgenommen werden – das ist das verbreitete Bild, das viele Menschen von der Intensivmedizin und von Intensivstationen haben. Intensivmedizin wird daher oft als menschenfern oder gerätezentriert missverstanden.
Moderne Intensivmedizin sieht aber völlig anders aus: Auch wenn wir uns erforderlichenfalls modernster Technik bedienen, stellen wir den Menschen in den Mittelpunkt. Die Betroffenen „hängen“ nicht nur an Maschinen, sie sind auch nicht notwendigerweise sediert, sondern sie werden umfassend betreut. In erster Linie von Ärztinnen und Ärzten sowie vom Pflegepersonal, aber auch interdisziplinär von Physiotherapeutinnen und -therapeuten, Diätologinnen und Diätologen, Logopädinnen und Logopäden sowie Psychologinnen und Psychologen.
Zuwendungsmedizin senkt Sterblichkeit und verbessert Outcome
Immer mehr Studien sprechen dafür, dass menschenzentrierte Maßnahmen einen wesentlichen Einfluss auf das Outcome kritisch kranker Patientinnen und Patienten haben. So zeigte eine amerikanische Meta-Analyse von 46 Studien, dass sich Intensivpatientinnen und -patienten schneller stabilisieren und von der Intensivstation auf andere Stationen verlegt werden können, wenn sie eine patienten- und familienzentrierte Begleitung erhalten. Eine ganz aktuelle Studie aus den USA zeigt, dass sich patientenzentrierte Intensivmedizin mit einem Fokus auf „soft skills“ positiv auf die Sterblichkeit, den Pflegebedarf oder die Wiederaufnahme ins Spital auswirkt.
Eine schwedische Studie belegt, dass sich unter aufmerksamer Begleitung nicht nur das Wohlbefinden der Patientinnen und Patienten auf Intensivstationen verbessert, sondern auch das ihrer Angehörigen.
Apropos Angehörige: Wir sprechen auch deshalb von menschenzentrierter Medizin, da der Aufenthalt und die Betreuung auf der Intensivstation nicht nur für die Patientinnen und Patienten selbst, sondern auch für die Angehörigen eine besondere Herausforderung darstellt. Studien zeigen, dass Angehörige von Intensivpatientinnen und -patienten besonders häufig (67 Prozent) von Symptomen schwerer Depression betroffen sind, nach einem Jahr liegt die Rate immer noch bei 43 Prozent. Große Herausforderungen bedeutet die Arbeit auf Intensivstationen auch für das medizinische Personal, auch das ist durch Untersuchungen belegt. Burn-out-Gefahr besteht insbesondere, wenn Therapien als nicht zweckmäßig erlebt werden. Menschenzentrierte Intensivmedizin wirkt auch solchen Entwicklungen entgegen.
Ziel ist nicht das bloße Überleben, sondern gutes Weiterleben
Die Intensivmedizin rettet in vielen Fällen Leben, das bedeutet aber nicht unbedingt ein Weiterleben ohne Beeinträchtigungen. Beispielsweise blieben Patientinnen und Patienten, die die schwere Lungenerkrankung ARDS nach intensivmedizinischer Betreuung überlebt hatten, einer Studie zufolge in ihrer Lebensqualität nach dem Intensivaufenthalt stark eingeschränkt. Sie kämpften weiter mit körperlicher Schwäche, konnten Alltagsverrichtungen nicht selbständig durchführen, benötigen häufiger medizinische Versorgung und litten unter psychischen Belastungen. Die Autoren der Studie zu den ARDS-Patientinnen und -patienten stuften deren Zustand ähnlich ein wie den von Kriegsopfern, die an posttraumatischen Belastungsstörungen leiden.
Überleben alleine kann mit dem heutigen Wissen also nicht mehr das einzige Ziel der Intensivmedizin sein. Wenn wir noch besser werden wollen, dann dürfen wir uns nicht darauf beschränken, nur dafür zu sorgen, DASS die uns anvertrauten Menschen überleben. Vielmehr müssen wir uns auch um das WIE kümmern – wie wird der Aufenthalt auf der Intensivstation erlebt und welche Maßnahmen müssen schon auf der Intensivstation gesetzt werden, damit nach der körperlichen Erholung auch die psychische Bewältigung dieser kritischen Phase gelingt.
Menschenzentrierte Intensivmedizin braucht ausreichende Ressourcen
Wir wissen also genau, welche Vorteile die menschenzentrierte Intensivmedizin hat. Doch sie ist ressourcenintensiv. Und für diese ausreichenden Ressourcen müssen wir sorgen. Niemand würde auf die Idee kommen, lebenserhaltende Maschinen nicht oder nur zeitweise zu verwenden – eben weil es so offensichtlich ist, dass dies für Patientinnen und Patienten tödlich sein könnte. Die Konsequenzen des Weglassens von sogenannten „soft-skills“-Maßnahmen wie pflegerische und ärztliche Zuwendung, psychologische Betreuung, Physiotherapie oder Logopädie sind zumindest auf den ersten Blick weniger augenscheinlich – und das, obwohl sie nachweislich zur rascheren Genesung und auch zum Überleben der Intensivpatientinnen und -patienten beitragen. Dennoch stehen die Zeit- und Personal-Ressourcen für diese Maßnahmen leider oft nicht in ausreichendem Maß zur Verfügung.
Dringend nötig wären auch Einrichtungen, die Patientinnen und Patienten sowie ihre Angehörigen nach der Entlassung von der Intensivstation speziell weiter betreuen – eine Anlaufstelle also für alle Fragen, die auch dabei hilft, die Zeit auf der Intensivstation aufzuarbeiten.
Ein zentrales Anliegen ist dabei die Finanzierung von Maßnahmen der menschenzentrierten Intensivmedizin. Die Betreuung von Angehörigen beispielsweise übernehmen Ärztinnen und Ärzte selbstverständlich gerne, derzeit aber zusätzlich zu ihren anderen Aufgaben. Denn solche Betreuungsleistungen können im aktuellen Finanzierungssystem für Spitalsleistungen weder dokumentiert noch abgerechnet werden. Die Gesprächs- und Zuwendungsmedizin sollte in Zukunft in der Leistungsabgeltung einen ähnlich großen Stellenwert erhalten wie der Einsatz von medizinischen Geräten oder Medikamenten.
Quellen:
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