Der Leiter der Europäischen Drogenbeobachtungsstelle (EMCDDA), Alexis Goosdeel im Gespräch mit anaesthesie.news: „Im Vergleich USA zu Europa keine Notwendigkeit für strengere Schmerztherapie-Regelungen.“
Regelmäßig macht auch in Europa die US-Drogenepidemie mit tausenden Überdosis-Opfern durch Opioide Schlagzeilen. Doch Europa sollte sich nicht täuschen lassen. „Wir haben unsere eigenen Probleme. In einigen Regionen steigt die Zahl der Drogentoten an – aber aus anderen Gründen”, sagte jetzt Alexis Goosdeel, Chef der Europäischen Drogenbeobachtungsstelle (EMCDDA) am Rande des alle zwei Jahre in Lissabon abgehaltenen Kongresses Lisbon Addictions 2019.
Goosdeel: „Die Situation in den USA und Europa ist aber sehr unterschiedlich. Wir hatten in Europa vergangenes Jahr rund 9.500 Todesopfer durch Überdosierungen. In den USA waren es laut den letzten Zahlen in einem Jahr rund 72.000.”
Die exakte Zahl für die EU von 2017 lautete auf 8.328 derartige Todesfälle. In der höheren Zahl sind Norwegen und die Türkei beinhaltet. Die USA lagen 1999 bei einer Überdosis-Mortalitätsrate von rund 60 pro Million Einwohner und Jahr. 2017 waren es bereits 198 pro Million Einwohner, 2018 schließlich 217 pro Million Einwohner. Die Mortalitätsrate infolge von Drogen-Überdosierungen in Europa (EU plus Norwegen und Türkei) blieben zwischen 2007 und 2017 völlig gleich. Sie liegt bei 20 Opfern pro Million Einwohnern und Jahr – das Zehntel der US-Rate.
Univ.-Prof. Dr. Louisa Degenhardt vom Nationalen australischen Forschungszentrum für Drogen und Alkohol, ebenfalls in Lissabon mit einem Vortrag vertreten und ein internationales Forschungsteam haben aufgelistet: „Die Global Burden of Disease-Studie aus 2017 hat aufgelistet, dass es weltweit rund 109.500 Oper durch Opioid-Überdosierung gab. 43 Prozent davon entfielen auf die USA. Die höchste Rate an tödlichen Überdosierungen pro 100.000 Einwohner wurde in Russland, anderen osteuropäischen Staaten und in den USA registriert.” Trauriger Spitzenreiter ist derzeit die kanadische Provinz British Columbia mit 300 Drogentoten (2018) pro Million Einwohner.
Die Unterschiede zwischen USA und Europa
Goosdeel verwies dazu auf völlig unterschiedliche Ausgangslagen, welche zu dem enormen Problem in den USA und zu einem anhaltenden Problem in Teilen Europas geführt haben:
- In den USA startete die Opioid-Krise um die Jahrtausendwende mit der massenhaften Verschreibung von Opioiden (Oxycodon etc.) durch die Ärzteschaft für Patienten mit chronischen Schmerzzuständen (exklusive der Onkologie).
- Goosdeel: „In Europa ist die Verschreibung der Opioid-Analgetika hingegen viel stärker reguliert undkontrolliert. Es gibt keine Arzneimittelwerbung in der Öffentlichkeit.”
- Als man in den USA etwa um 2010 das Problem bemerkte und auf die Bremse stieg, waren bereits zahlreiche Menschen abhängig geworden. Sie stiegen auf Heroin um. Dies stellte die zweite Welle der unheilvollen Entwicklung.
- Die dritte Welle, so der EMCDDA-Chef: „Schließlich erreichten die USA dann die synthetischen Opioide, vor allem die Fentanyle. Laut den US-Zentren für Krankheitskontrolle stirbt dort die Hälfte der Opfer von Überdosierungen an der Einnahme von Fentanylen.” Extrem potent, kaum mehr durch den einzelnen Drogenabhängigen richtig zu dosieren, führte das in die Katastrophe.
- „In Europa ist hingegen die Opioid-Problematik seit langem durch Heroingebrauch getriggert. Das Durchschnittsalter der Abhängigen steigt und liegt bei um die 45 Jahre”, sagte Goosdeel. In den USA und Teilen Kanadas beträgt das Durchschnittsalter dieser Personen etwa die 25 Jahre.
- Fazit, wie Goosdeel, Klinischer Psychologe von Ausbildung und Karriere bis zur EMCDDA, feststellte: „Bezüglich der Verwendung der Opioide in der Schmerztherapie brauchen wir in Europa keine Änderungen.” Man müsse aber wachsam sein.
Fakten zeigen, dass die Situation – in Europa genauso wie in den USA – jeweils stark von Land und Drogen- sowie Medizingesetzgebung abhängt. Hinzu kommen soziale Grundbedingungen, Vorhandensein eines Versorgungsnetzes und “kulturelle” Gegebenheiten.
So liegt Österreich mit etwa 20.000 verbrauchten definierten Tagesdosen an Opioidanalgetika pro Million Einwohner nach den USA (fast das Doppelte), Deutschland (27.000) und Kanada (25.000) in einem internationalen Vergleich mit 25 Staaten an vierter Stelle.
Eine Zeitreihe von 1992 bis 2016 für Österreich zeigt einen langsamen Anstieg der rezeptierten Arzneimittel bis zu einem Plateau um das Jahr 2015. Die Zahl der Drogentoten (2017: 154) ist aber im Großen und Ganzen immer etwa gleich geblieben, lag nach der Jahrtausendwende sogar kurzzeitig bei um die 200.
Anders ist die Situation zum Beispiel in Schottland. Der britische Experte Dr. Roy Robertson von der Universität Edinburgh: „Die Zahl der mit Drogen in Verbindung stehenden Todesopfer ist in Schottland zwischen 2009 und 2018 von 545 auf 1.187 gestiegen.” Nimmt man nur die gerichtsmedizinisch abgesicherten Fälle, war es ein Anstieg von 428 auf 818 (2009/2018).
„Das ist dort vor allem auf eine in Schottland zumeist vorkommende Mischung verschiedenster Drogen zurückzuführen. Das sind oft Heroin, Benzodiazepine und andere”, sagte Goosdeel. Da spielen auch Kokain, Tramadol, Codein, Stimulantien, synthetische Cannabinoide etc. eine Rolle. Bei den „Benzos” ist der Wirkstoff Etizolam in Großbritannien extrem auffällig geworden.
Auch die berüchtigte Fentanyl-Epidemie mit vor allem aus illegaler Produktion in China stammenden Substanzen hat sich bisher in Europa kaum bemerkbar gemacht. „Es gab da lokal Probleme in Estland und in Skandinavien. Man ist aber draufgekommen, dass dieser Markt durch wenige Drogenhändler dominiert war. Die wurden ausgehoben”, sagte der EMCDDA-Chef. In England war beispielsweise Yorkshire betroffen. Die Maßnahmen der Polizei, die breite Verteilung von Naloxon als Gegenmittel haben teilweise gewirkt. Die EMCDDA hat bereits mehr als 30 Fentanyl-Analoga registriert, die auf dem Straßenmarkt aufgetreten sind.
Egal, wie Schlagzeilen immer lauten: Ein möglichst niederschwelliges Versorgungsangebot für (Opiat-)Abhängige, Spritzentauschprogramme, Projekte zur Hepatitis C-Therapie und die Substitutionsprogramme sind der Schlüssel in der Schadensminimierung. Gute Rahmenbedingungen für eine effektive Schmerztherapie für Patienten, die das wirklich benötigen, sind ein weiterer Bestandteil. (red)