Warum ist es für viele Menschen so spannend, Unfälle zu filmen und zu posten? Wie lassen sich Unfallopfer und Einsatzkräfte gegen die allgegenwärtigen Neugierigen mit Smartphones abschirmen? Wir haben bei Notfallmedizinern und Notfallpsychologen nachgefragt.
Kaum kracht es auf der Straße, sind sie zur Stelle: die Gaffer. Oder besser, die Gaffer 2.0. Sie fotografieren oder filmen Unfallopfer und posten Bilder, die nicht ins Netz gehören. Bilder von Verletzten und Sterbenden. Die Sozialen Medien sind voll von Unfällen und Rettungseinsätzen. In den letzten Wochen haben gleich mehrere Verkehrsunfälle für mediale Aufmerksamkeit und Empörung gesorgt. Denn an den Unfallstellen sammelten sich zahlreiche Neugierige, die weder Erste Hilfe leisteten noch die Einsatzkräfte unterstützen, sondern nur ihre Handys zückten. Sie schreckten dabei nicht davor zurück, verletzte oder bereits verstorbene Opfer aufzunehmen. Als eine junge Frau am Wiener Gürtel überfahren wurde, hatten die Rettungskräfte Mühe, die vielen Fotografierenden wegzudrängen. Bei einem Unfall in Linz musste die Polizei sogar Verstärkung anfordern, weil unter den rund 30 Gaffern auch Betrunkene waren, die randalierten und die Arbeit des Notarztes störten.
Gaffen erreichte eine neue Dimension
„Die Neugier am Unglück des Anderen liegt zwar grundsätzlich im Wesen der Menschen“, meint dazu Notfallmediziner Prim. Dr. Helmut Trimmel, Vizepräsident und Vorsitzender der Sektion Notfallmedizin der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI). „Smartphones und Soziale Medien verschaffen der die Lust am Gaffen aber eine neue Dimension. Die Achtung vor anderen und das Verantwortungsgefühl für Mitmenschen scheinen immer öfter in den Hintergrund zu treten.“
Notfallmediziner betrifft diese Entwicklung dann besonders, wenn ihnen Schaulustige die Arbeit erschweren. „Tatsächliche Behinderungen bei Einsätzen sind zwar glücklicherweise die Ausnahme, die Präsenz von Handykameras dafür aber inzwischen die Regel“, berichtet Prim. Trimmel. Ist etwa ein Notfall-Team mit einem Hubschrauber im Anflug auf einen Unfallort, sind zumeist schon zahlreiche Objektive auf die Helfer gerichtet. Was kaum einem der Fotografierenden und Filmenden bewusst ist: Das Ablichten von Unfallopfern ist auf keinen Fall erlaubt, denn es verletzt deren Persönlichkeitsrechte. „Auch wir filmen oder fotografieren während Einsätzen nicht, es sei denn, dies wäre aus medizinischen Gründen notwendig“, erklärt der Notarzt. „Und wir versuchen natürlich, unsere Patienten vor neugierigen Blicken zu schützen, lassen mit Decken einen Sichtschutz errichten oder stellen mit Hilfe der Feuerwehr Sichtschutzwände auf .“
Warum Unfälle so „spannend“ sind
Was fasziniert so an Unfällen, dass man hinschauen muss, obwohl sie schrecklich sind? Was treibt Menschen an, Aufnahmen davon zu posten? „Neugier ist eine der treibenden Kräfte unserer Existenz. Ohne sie hätte die Menschheit nicht überlebt“, erklärt Dr. Rudolf Morawetz vom Notfallpsychologischen Dienst Österreich (NDÖ). Egal ob Erdbeben, Flutkatastrophe oder Autounfall – der Mensch habe ein grundsätzliches Interesse an Ereignissen, die ihn potenziell bedrohen könnten. „Jeder kann sich in die Situation der Opfer hineinversetzen und sich vorstellen, selbst Teil des Geschehens zu sein“, sagt Dr. Morawetz. Dabei geht es gar nicht darum, die eigene Gefährdung abzuschätzen. Im Gegenteil. „Wer von der Neugier gepackt ist, achtet nicht auf mögliche Gefahren, sondern begibt sich sogar in die Gefahrenzone. Wenn etwa Menschen vor einem brennenden Haus stehen, denken sie nicht daran, von herabfallenden Teilen getroffen und verletzt zu werden. Sie schauen, was los ist“, sagt der Psychologe. Gegen Neugier als elementare menschliche Eigenschaft lässt sich im Grunde nichts tun. „Die Frage ist nur, wie wir trotzdem den Opferschutz gewährleisten können.“
Verschärft wird das Problem dadurch, dass heute viele Menschen der Ansicht sind, sie müssten ihr Leben zu jeder Zeit dokumentieren – also filmen oder fotografieren – und Erlebtes umgehend mit anderen teilen. „Das verbieten zu wollen, wäre schlimmer als die Zensur in China. Das sind gesellschaftliche Veränderungen, die geschehen, egal, ob wir das für gut oder schlecht halten. Dass diese Kommunikation in sozialen Medien stattfindet, ist ein Fakt und nicht mehr umkehrbar“, sagt Dr. Morawetz.
Mehr Bewusstsein für Persönlichkeitsrechte
Rettungskräfte und die Polizei sind bei Unfällen gefordert, Distanz zwischen Opfern und Neugierigen zu schaffen und das Herstellen verbotener Bilder zu unterbinden. Aus praktischen und rechtlichen Gründen ist das aber nicht ganz einfach, wie der Psychologe erklärt. „Distanz ist nur eine subjektive Größe. Bei richtiger Beleuchtung kann ich aus zwanzig Metern Entfernung ein Foto machen, bei dem sich die Person erkennen lässt. Dennoch könnte man sagen, eine solche Entfernung liegt nicht mehr in der Privatsphäre und gegen Paparazzi mit großen Teleobjektiven haben wir ohnehin keine Chance.“ Aber die Mehrzahl der Gaffer hat nur ihr Handy und geht daher für ein brauchbares Bild sehr nahe hin. Dr. Morawetz schlägt vor: „Die Polizei könnte allen zu nahe Stehenden die Handys abnehmen, um zu überprüfen, ob Persönlichkeitsrechte missachtet wurden. Das wäre sehr effektiv, aber auch doch eine sehr invasive Maßnahme.“ Besonders wichtig wäre es, mehr Bewusstsein für die Persönlichkeitsrechte von Unfallopfern zu schaffen. Noch gibt es laut Dr. Morawetz zu wenig Sensibilität dafür. Dabei wäre die Grenze relativ einfach zu erkennen, so der Psychologe: „Stellen Sie sich vor, Sie liegen verletzt am Straßenrand. Möchten Sie so gefilmt werden? Oder wollen Sie Bilder von ihren Angehörigen im Internet sehen, die gerade ums Überleben kämpfen?“ (SW/Blogredaktion)