Die Gefährlichkeit der britischen Variante

In einer Arbeit in Nature wird erneut über die Gefährlichkeit der britischen Variante B.1.1.7 berichtet (Nature 2021; doi: 10.1038/s41586-03426-1). Dazu wurden die Daten von > 2 Millionen RT-PCR positiven Patientinnen und Patienten hinsichtlich Ethnizität, Geschlecht, Vorerkrankungen, Virusvarianten und Outcome analysiert. Die britische Variante wurde aufgrund des fehlenden Nachweises eines S-Gens im Spikeprotein (S Gene Target Failure; SGTF) identifiziert. Charakteristisch für die britische Variante ist der positive PCR Nachweis für das ORF1ab und N Gen bei fehlendem S-Gen im Spikeprotein. Anhand von fast 5.000 Todesfällen wurde festgestellt, dass das Sterberisiko mit der britischen Variante (SGTF) innerhalb eines Zeitraums von 28 Tagen um zirka 55% (95% CI 39-72%) gegenüber einer Infektion mit dem „wild Typ“ Virus erhöht ist. Auch nach Berücksichtigung von demographischen sowie sozialen Faktoren und Vorerkrankungen bleibt diese Risikoerhöhung bestehen. In der Gruppe der 55-69jährigen bedeutet das eine Erhöhung der SARS-CoV2-bedingten Sterberate von 0,6% auf 0,9% bis zum 28 Tag nach der Erstdiagnose. Darüber hinaus, aber auch in Bezug auf Langzeitschäden, können bisherige Studien noch keine Auskunft geben. Die Untersuchung bestärkt eine bereits publizierte Untersuchung, die im letzten Update besprochen wurde. Derzeit gibt es keine pathophysiologische Erklärung für die erhöhte Sterberate. Allerdings finden sich bei der UK-Variante gegenüber „wild Typ“-Infektionen eine deutlich erhöhte Viruslast im nasopharyngealen Abstrich infizierter Personen. Eine höhere Virusbelastung kann zumindest teilweise eine höhere Sterberate erklären.

Präsymptomatische und asymptomatische Übertragung von SARS-CoV-2

In einem Computersimulationsmodell, dessen Annahmen auf derzeit publizierten, klinischen Daten zahlreicher Studien und Metaanalysen beruhen, wurde die Bedeutung der Verbreitung des SARS-CoV-2 Virus durch asymptomatische Infizierte und durch Infizierte in der präsymptomatischen Inkubationszeit neu evaluiert (Johansson MA, et al. JAMA 2021: doi:10.1001/ jamanetworkopen. 2020.35057). Die Annahmen des Modells waren wie folgt:

  • Die höchste Infektiosität fällt auf den Tag des Symptombeginns.
  • 30% aller Infizierten bleiben asymptomatisch, d.h. sie werden niemals krank.
  • Die mediane Inkubationszeit beträgt 5 Tage.
  • Die Infektiosität beginnt 2 Tage vor Ausbruch der Erkrankung.
  • Die höchste Infektiosität kann zwischen 3 und 7 Tagen relativ zur medianen Inkubationszeit liegen.

Unter den Annahmen des Modells entstehen bis zu 59% aller Virusübertragungen durch asymptomatische Virusträger entweder durch asymptomatische Infizierte oder präsymptomatisch Infizierte vor Ausbruch der Symptome. Verschiebt man in der Modellrechnung die Zahl asymptomatisch Infizierter von 30% auf 24% und gleichzeitig den Tag der höchsten Ansteckungsgefahr um nur 1 Tag nach vorne, erhöht sich die Zahl neu Infizierter durch asymptomatische Träger von 24% auf 43% und die Gesamtansteckungen durch asymptomatisch und präsymptomatisch Infizierte auf 67%. In der Praxis bedeutet das, dass bei einer natürlichen Reproduktionszahl des Virus von 2 eine mindestens 50prozentige Reduktion der Infektionen nötig ist, um den R-Wert auf 1 und damit die Verbreitung des Virus in den Griff zu bekommen.

Unter den derzeitigen Bedingungen, bei mangelhafter Impfstoffverfügbarkeit, bedeutet das, dass nur das Aufrechterhalten physikalischer Maßnahmen  (Maske, Hände waschen, Abstand halten) die weitere rasche Ausbreitung der Pandemie hintanhalten kann. An dieser Stelle möchte ich nochmals auf den zweifelhaften Wert der Antigenschnellteste zur Diagnose von SARS-CoV-2 Infektionen hinweisen. Schnellteste reagieren auf das Nucleotid (Kapsel) Antigen. In der Frühphase der Infektion kann zwar intaktes Virusmaterial in den Atemwegen mittels PCR-Diagnostik reichlich (Nachweis von Spikeantigenen also Oberflächenstrukturen des Virus) nachgewiesen werden. Aber das Kapselantigen ist noch unter der Virusmembran „versteckt“. Erst wenn infizierte Zellen zugrunde gehen, werden Virusbestandteile unter anderem auch Viruskapselmaterial freigesetzt und kann mittels Antigentest nachgewiesen werden. In der Regel ist das genau der Tag, an dem der Patient  erste Symptome verspürt. Somit schließt ein negativer Test eine frische Infektion nicht aus. Aber ein positiver Antigentest bei gleichzeitig beginnenden Symptomen bestätigt die SARS-CoV-2 Infektion und sollte zur sofortigen Isolierung der betreffenden Person führen.

COVID-19 und Schwangerschaft

Wir haben bereits in mehreren Updates darüber berichtet, dass schwangere Frauen eine Risikogruppe für schwere und folgenreiche COVID-19-Erkrankungen darstellen. Zur Erinnerung: In Mexiko ist die schwere COVID-19-Erkrankung bereits die häufigste Todesursache bei der Schwangeren geworden.

In einer großen amerikanischen Kohortenstudie wurde jetzt über den Verlauf schwerer COVID-19 Erkrankungen bei Schwangeren berichtet (Metz et al. Obstet Gynecol 2021;137:571). Patientinnen mit COVID-19 Erkrankung aus 33 US Krankenhäusern (n = 1219) wurden im „National Institute of Health Maternal-Fetal Network“ erfasst. Dabei waren 47% asymptomatisch infiziert, 27% zeigten milde Symptome, 14% waren moderat erkrankt und 12% schwer bis kritisch erkrankt. Patientinnen mit schwerem bis kritischem Erkrankungsverlauf waren signifikant häufiger adipös oder hatten Schwangerschafts-assoziierte Komplikationen (Diabetes, Hypertension). Bei an COVID-19 erkrankten Frauen waren die Risiken für

  • Notwendigkeit einer Kaiserschnittentbindung um das 1,6-fache
  • Frühgeburten um das 3,5-fache

erhöht.

Venöse Thromboembolien traten bei 6% dieser Schwangerschaften auf. Die Sterberate lag bei den Schwangerschaften bei 0,3%.

Eine weitere multinationale Untersuchung über die Risiken einer COVID-19-Erkrankung bei Schwangeren (43 Krankenhäuser in 18 Ländern) ist gerade im JAMA publiziert worden (Villar José et al. JAMA 2021; doi: 10.1001/jamapediatrics.2021.1050). 706 Schwangere mit COVID-19 und 1.424 schwangere Kontrollpatientinnen wurden verglichen. 48,6% der COVID-19 positiven Patientinnen waren übergewichtig. Bei Schwangeren mit COVID-19 waren die Risiken für eine Frühgeburt 1,6-fach, für das Auftreten von Preeklampsie und Eklampsie um das 1,76-fache, die Notwendigkeit zur Aufnahme auf einer Intensivstation um das 5,04-fache und das Sterberisiko um das 2,14-fache erhöht. Die perinatale Morbidität und Mortalität des Neugeborenen war um das 2,14-fache erhöht.  Fieber und Atemnot bei infizierten Schwangeren erhöhten das Risiko für Komplikationen und Tod um das Doppelte. 13% der Neugeborenen von infizierten Schwangeren wurden unmittelbar nach der Geburt positiv auf das SARS-CoV-2 Virus getestet. Bei SARS-CoV-2 negativ getesteten Neugeborenen erhöhte die Brustfütterung der positiv getesteten Mutter nicht das Risiko einer Infektion. Beide vorgestellten Studien zeigen, dass Schwangere zur vulnerablen Gruppe der SARS-CoV-2-Infizierten gehören und unbedingt geschützt werden müssen (Abstand, Maske, Händehygiene).

Derzeit laufen Studien zur Wirksamkeit und Sicherheit von Impfstoffen bei Schwangeren. Wie wir bereits aus einer Observationsstudie aus Israel wissen, ist die Impfung mit mRNA-Impfstoffen unmittelbar nach der Geburt für die Frauen sicher ist und dass sowohl IgA als auch IgG Antikörper gegen das SARS-CoV-2 Virus in hohem Maß in die Muttermilch übergehen und somit das Neugeborene vor Infektionen schützen (Perl SH et al. JAMA 2021; doi: 10.1001/jama.2021.5782). Bereits 2 Wochen nach der ersten Impfdosis sind IgA-anti-SARS-CoV-2 spezifische Antikörper signifikant erhöht in der Muttermilch nachweisbar. 86% aller Proben waren nach 4 Wochen IgA positiv. Nach 6 Wochen waren 66% aller Milchproben auf anti-SARS-CoV-2 spezifische IgG Antikörper positiv, nach 5-6 Wochen waren es 97% aller untersuchten Muttermilchproben.

Vakzine-induzierte immunthrombotische Thrombozytopenie (VITT) nach Astra Zeneca Impfung

Der AstraZeneca-Impfstoff (ChAdOx1 nCov-19) ist kürzlich wegen des Auftretens von Sinusvenenthrombosen in einem zeitlich nahen Abstand zur ersten Impfdosis in die Schlagzeilen gekommen. Eine Arbeit im NEJM aus Deutschland untersuchte mögliche pathophysiologische Mechanismen im Zusammenhang mit dem Auftreten dieser Thrombosen (Greinacher A. et al. NEJM 2021; doi: 10.1056/NEJMoa2104840). Insgesamt wurde das Blut von 11 betroffenen Patientinnen und Patienten auf Antikörper die gegen den Plättchenfaktor 4 (PF4) auf der Oberfläche der Thrombozyten gerichtet sind untersucht. Unter den 11 Betroffenen waren 9 Frauen. Das mittlere Alter war 36 Jahre (Range: 22-49 Jahre). 5 bis 16 Tage nach der Erstdosis ChAdOx1 nCov-19 entwickelten die Betroffenen eine oder mehrere Thrombosen und eine schwere Thrombozytopenie. Die Thrombosen betrafen:

  • zerebrale Sinusvenen in 9 Fällen
  • 3 Splanchnikusvenenthrombosen
  • 3 Pulmonalembolien
  • 4 Thrombosen in anderen Venenstromgebieten.

Fünf Patientinnen und Patienten entwickelten eine disseminierte intravaskuläre Koagulation (DIC). Sechs Personen sind verstorben. Das Serum der betroffenen Patientinnen und Patienten führte in vitro zu einer massiven Aktivierung von Blutplättchen, ähnlich der Aktivierung wie sie bei einer Heparin-induzierten thrombotischen Thrombozytopenie beobachtet werden kann. Auch bei dieser bekannten Form der immunologischen Gerinnungsaktivierung reagieren Antikörper, die nach früherer Heparin-Exposition gebildet werden, nach erneuter Heparin-Gabe mit dem PF4 und führen zur raschen Thrombozytenaktivierung mit Thrombozyteninteraktion und Bildung von Thrombosen. Die Autoantikörper gegen PF4, die in seltenen Fällen nach Impfung mit ChAdOx1 nCov-19 gebildet werden, sind eine neu entdeckte AK-Klasse, deren Wirkung auf die Plättchenaggregation in vitro durch Heparin gehemmt wird.

Die Ursache für die Antikörperbildung in einigen Patientinnen und Patienten ist derzeit nicht bekannt. Nachdem diese schwere Impfnebenwirkung im Zusammenhang mit mRNA-Impfstoffen bisher nicht berichtet worden ist, aber Fälle auch nach Anwendung eines weiteren Vektor-basierten Impfstoffs (Johnson&Johnson) aufgetreten sind, wird vermutet, dass die Immunantwort am ehesten durch den Vektor und nicht durch den eigentlichen Impfstoff bedingt ist. Adenoviren, die in diesen Impfstoffen verwendet werden, können an Plättchen binden und die betroffenen Thrombozyten aktivieren. Allerdings sind Adenoviren auch häufige Verursacher von unkomplizierten Erkältungskrankheiten und in diesem Zusammenhang ist ein vermehrtes Auftreten von thrombotischen Komplikationen bisher nie beschrieben worden. Vektor-basierte Impfstoffe enthalten allerdings eine sehr hohe Konzentration dieser DNA-Viren. Es kann angenommen werden, dass zahlreiche Vektoren bei der Impfung beschädigt sind und z.B. Virus-DNA von Adenoviren frei ins Gewebe injiziert werden.  Es ist bekannt, dass sowohl DNA als auch RNA Bruchstücke an den PF4 von Thrombozyten binden können und Komplexe mit im Blut vorhandenen Antikörpern bilden können, die in weiterer Folge zur Plättchenaktivierung und möglicherweise Thrombosen führen. Dies ist allerdings bisher nur eine Theorie der Pathophysiologie der Vakzine induzierte immun thrombotische Thrombozytopenie.

Allen Patientinnen und Patienten, die mit dem Astra-Zeneca Impfstoff geimpft werden oder diesen bereits einmal erhalten haben, kann zur Beruhigung gesagt werden:

  • Eine VITT ist ein extrem seltenes Ereignis, dass rechtzeitig erkannt durch Antikoagulation mit oralen Xa Inhibitoren oder direkten Thrombin-Inhibitoren und der Gabe von hoch-dosierten Immunglobulinen (1g pro kg Körpergewicht an 2 Tagen) gut behandelbar ist.
  • Frühsymptome der VITT sind plötzlich auftretende, heftige Kopfschmerzen (89%), häufig mit Übelkeit und Erbrechen oder Bauchschmerzen, gelegentlich auch mit Atemnot oder kleinen punktförmigen Hautblutungen, die etwa 7 bis 16 Tage nach der erstem Impfung auftreten. Das Auftreten derartiger Symptome sollte Anlass zum sofotigen Arztbesuch sein. Eine Bestimmung eines Blutbildes zeigt ob es sich möglicherweise um ein VITT handelt (Thrombozytopenie!)
  • Nach bisherigen Kenntnisstand ist die Gefahr einer VITT in Gebieten mit gesteigertem Infektionsrisiko (> 50 Infektionen /100.000 EW), in allen Altersgruppen und Geschlechter unabhängig, deutlich geringer als das Risiko, eine schwere COVID-19 Erkrankung mit Intensivstationsaufenthalt oder gar Tod zu erleiden.
  • Nach einer zweiten Dosis des AstraZeneca-Impfstoffs ist bisher noch kein VITT beschrieben worden.

Generell muss an dieser Stelle auch erwähnt werden, dass das Risiko für Sinusvenenthrombosen (SVT) auch bei einer COVID-19-Erkrankung deutlich erhöht ist. Die Oxford University Group stellte in einer Pressemitteilung, anhand eigener Untersuchungen fest, dass das Risiko für Sinusvenenthrombosen bei der COVID-19-Erkrankung bei 39 Fällen/1Million liegt. Bei Menschen mit mRNA Impfungen wurde eine Häufigkeit von 4,1 Fällen/1Million festgestellt. Derartige Angaben sollten natürlich immer im Vergleich mit dem Auftreten dieser Thromboseform in der Normalbevölkerung gesehen werde. Die Angaben über die Häufigkeit der SVT variieren zwischen 2,2 und 15,6 Fällen pro 1 Million Einwohner. Auch hier sind Frauen häufiger betroffen als Männer (Verhältnis Frau: Mann zirka 3:1). Dabei spielen wahrscheinlich eine Hyperkoagulabilität im Rahmen von Schwangerschaft, dem Wochenbett und der Einnahme von oralen Kontrazeptiva ätiologisch eine Rolle.  Selbstverständlich können Sinusvenenthrombosen auch nach Trauma, bei angeborenen Gerinnungsstörungen, z.B. Faktor V-Leiden-Mutation, Protein C oder S-Mangel und bei intrakraniellen Malignomen auftreten. 

Antikoagulation bei hospitalisierten COVID-19 Patientinnen und Patienten – wieviel ist genug?

In einer iranischen Studie wurden 600 Intensivpatientinnen und -patienten (medianes Alter 62 Jahre) mit schwerer COVID-19-Erkrankung in 2 Gruppen randomisiert (Sadeghipour P et al. JAMA 2021; doi:10.1001/jama.2021.4152). Eine Standardgruppe erhielt als Thromboseprophylaxe 40mg Enoxaparin sc. 1x täglich und eine intermediäre Gruppe wurde mit 1mg/kg Körpergewicht Enoxaparin täglich behandelt. Die primären Outcomeparameter waren die Häufigkeit thromboembolischer Komplikationen, die Notwendigkeit einer ECMO-Therapie und der Tod innerhalb der ersten 30 Tage nach Hospitalisation. Alle untersuchten Outcomeparameter kamen in ähnlicher Häufigkeit in beiden Gruppen vor:

  • VTE: 3,4% in beiden Gruppen
  • Tod 43,1% versus 40,9%

Schwere Thrombozytopenien (< 20.000/µl) wurden bei 2,2% der Patientinnen und Patienten in der Intermediären Gruppe und bei keiner bzw. keinem der Standardgruppe beobachtet.    

Auch wenn die Studie in einem sehr guten Journal publiziert wurde, so weist sie doch gravierende Schwächen auf, die die Interpretation der Ergebnisse erschweren. Das tatsächliche Ausmaß der Antikoagulation wurde quantitativ nicht untersucht. Hier wäre z.B. die Bestimmung des Anti-Xa Spiegels wünschenswert gewesen.

Die Stärke der Antikoagulation sollte sich möglicherweise besser an den erhöhten D-Dimer Plasmakonzentrationen, als Ausdruck der Gerinnungsaktivierung, orientieren. Es würde wahrscheinlich klinisch wenig Sinn machen, einen Patienten mit nahezu normalen D-Dimer Spiegel intermediär oder gar therapeutisch zu antikoagulieren.

Das Vorhandensein von Antiphospholipid-Antikörpern bei schwer Erkrankten im Rahmen von COVID-19 wurde ebenfalls nicht berücksichtigt. Menschen mit nachweisbaren Antiphospholipid-Antikörpern scheinen, nach derzeitigen Erkenntnissen, ein deutlich erhöhtes arterielles und venöses Thromboserisiko zu haben. Diese Patientinnen und Patienten zeigen eine gesteigerte Neutrophilenaktivierung und in vitro eine gesteigerte Bildung von NETs („Neutrophil Extracellular Traps“). Diese gesteigerte Neutrophilenaktivierung korreliert auch mit der Erkrankungsschwere. NETs aktivieren per se Thrombozyten und erhöhen die Gerinnselneigung.

Gibt es Prädiktoren für die Entstehung eines Long-COVID-19-Syndroms

Berichte über das Auftreten eines Long-COVID-19-Syndroms nach überstandener COVID-19 Erkrankung häufen sich in der Literatur. Übereinstimmend zeigen existierende Daten eine Assoziation zwischen Schwere der Erkrankung und der Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Spätfolgen, deren Symptome starke Ähnlichkeit mit dem „myalgischen Enzephalomyelitis/chronischen Erschöpfungs-Syndrom“ haben. In einer Studie, die zwischen März und September 2020 in den USA, England und Schweden durchgeführt wurde, ging es um die Frage, ob es Prädiktoren für das Auftreten langfristiger Symptome nach SARS-CoV-2-Infektionen gibt (Sudre Ch et al. Nat Med 2021; doi: 10.1038/s41591-021-01292-y). Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Studie mussten täglich respiratorische , gastrointestinale und systemische Beschwerden nach überstandener COVID-19-Erkrankung in eine mobile App eingeben. Insgesamt nahmen 4.182 Personen mit einer durch PCR nachgewiesenen Infektion an der Untersuchung teil. 4,5% der Teilnehmenden berichteten 8 Wochen nach der Erkrankung und 2,3% 12 Wochen nach der Infektion persistierende Symptome. Betroffene, die an mehr als 5 Symptomen (Erschöpfung, Kopfschmerz, Atemnot, Muskelschmerzen, Heiserkeit) während ihrer COVID-19 Erkrankung litten, hatten ein 3,5-fach erhöhtes Risiko, auch 8 und 12 Wochen nach stattgehabter Infektion persistierende Beschwerden zu haben.

Somit bestätigt die vorliegende Untersuchung bisherige Erkenntnisse anderer Studien. Die höchste Inzidenz an Long-COVID-19-Syndromen findet man bei den am schwersten erkrankten Patienten, die intensivmedizinischer Betreuung bedürfen. Bei Intensivpatientinnen und -patienten liegt die Inzidenz des Long-COVID-19-Syndroms bei mehr als 50%, und zwar über einen Zeitraum von bis zu 7 Monaten nach Ausbruch der Infektion. Über die ökonomische Bedeutung dieses Syndroms (Rehabilitation, Arbeitsausfall, Frührente) werden wir erst in den nächsten Jahren erfahren. Es ist aber anzunehmen, dass die Kosten für die Gesellschaft enorm sein werden.   

Neurologische und psychiatrische Folgeschäden ein halbes Jahr nach COVID-19-Erkrankung

In einer großen retrospektiven Datenanalyse wurde die Inzidenz neurologischer und psychiatrischer Spätschäden 6 Monate nach einer COVID-19-Erkrankung erfasst. (Taquet M et al. Lancet Psychiatry 2021; 8: 416-427; doi: 10.1016/S2215-0366(21 )00084-5). Die verwendete Datenbank (TriNetX) beinhaltet Gesundheitsdaten von 81 Millionen Menschen. Insgesamt wurden daraus 236.379 Personen mit diagnostizierter COVID-19-Erkrankung für die Datenanalyse extrahiert. Das Auftreten von 14 neurologischen und psychiatrischen Diagnosen wurde 6 Monate nach COVID-19 dokumentiert. Die erfassten Diagnosen waren: Die intrazerebrale Blutung, der ischämische Schlaganfall, Parkinson, Guillain-Barré Syndrom, Nerven-, Nervenwurzel- und Nervenplexus Schäden, Erkrankungen der Muskulatur und der Muskelinnervation (z.B. Polyneuropathie), Enzephalitis, Demenz, Psychosen, Angststörungen, Depression, Schlaflosigkeit und Substanzabusus. Um eine korrekte Einschätzung der Bedeutung dieser Diagnosen nach COVID-19 zu erlangen, wurden zusätzliche Vergleiche mit dem Auftreten der gleichen Diagnosen nach anderen Erkrankungen (Hautinfektionen, Knochenfrakturen, Pulmonalembolien) angestellt.

Die Inzidenz neuer psychiatrischer und neurologischer Diagnosen, 6 Monate nach einer COVID-19 Erkrankung, lag bei 33,62%, wobei bei 12,84% der Patientinnen und Patienten eine Erstdiagnose gestellt wurde. Bei 46,42% der Betroffenen, die wegen ihrer COVID-19-Erkrankung intensivmedizinisch behandelt worden sind, wurde bis zu 6 Monaten nach der Infektion zumindest eine psychiatrische oder neurologische Diagnose gestellt. Bei 26% dieser Patientinnen und Patienten war es eine Erstdiagnose. Generell waren psychiatrische und neurologische Diagnosen bei Menschen mit Enzephalopathie (z.B. akutem Delir) während ihrer COVID-19 Erkrankung häufiger.

     Die Tabelle gibt den prozentuellen Anteil an neurologischen und psychiatrischen Diagnosen im Gesamtkollektiv und aufgeteilt in Gruppen nach der Schwere der COVID-19-Erkrankung, bzw. nach dem Vorhandensein einer Enzephalopathie bis zu 6 Monaten nach Infektion wieder.

Diagnose alle Patient*innen ohne Hospitalisation mit Hospitalisation mit Intensivstation mit Enzephalopathie
Intrakranielle Blutung 0,56% 0,31% 1,31% 2,66% 3,61%
Ischämischer Apoplex 2,1% 1,33% 4,38% 6,92% 9,35%
Parkinson 0,11% 0,07% 0,2% 0,26% 0,46%
Gullain-Barrè 0,08% 0,05% 0,22% 0,33% 0,48%
Schäden an Nervenstrukturen 2,85% 2,69% 3,35% 4,24% 4,69%
Myoneuronale/ Muskelschäden 0,45% 0,16% 1,24% 3,35% 3,27%
Enzephalitis 0,1% 0,05% 0,24% 0,35% 0,64%
Demenz 0,67% 0,35% 1,46% 1,74% 4,72%
Angststörungen, Depressionen Psychosen 23,98% 23,59% 24,5% 27,78% 36,25%
Erstdiagnose: Angststörungen, Depressionen Psychosen 8,63% 8,15% 8,85% 12,68% 12,96%
Angststörungen 13,66% 13,1% 14.69% 15,43% 22,52%
Erstdiagnose Angststörungen 4,22% 3,86% 4,49% 5,82% 8,07%
Psychosen 1,4% 0,93% 2,89% 2,77% 7%
Erstdiagnose Psychosen 0,42% 0,25% 0,89% 0,7% 2,12%
Schlaflosigkeit 5,42% 5,16% 5,95% 7,5% 9,82%
Erstdiagnose Schlaflosigkeit 2,53% 2,23% 3,14% 4,24% 5,05%
Substanzabusus 6,58% 5,87% 8,56% 10,14% 11,85%
Erstmaliger Substanzabusus 1,92% 1,74% 2,09% 3,15% 2,58%
Jede neurologische und psychiatrische Diagnose 33,62% 31,74% 38,73% 46,42% 62,34%
Jede neurologische und psychiatrische Erstdiagnose 12,84% 11,51% 15,29% 25,79% 31,31%

Die Untersuchung zeigt zunächst einmal, dass neurologische und psychiatrische Symptome, als Teil des Long-COVID-19-Syndroms, sehr häufig sind und mit der Schwere der COVID-19-Erkrankung häufiger werden. Das Risiko für derartige „Späterkrankungen“ ist am häufigsten bei hospitalisierten Patientinnen und Patienten und steigert sich bei Menschen mit Enzephalopathie während der Erkrankung und bei solchen, deren Erkrankungsschwere einen Intensivstationsaufenthalt notwendig macht. Pathophysiologisch können zahlreiche Mechanismen wie z.B. Inflammation des ZNS, Virusbefall von neurologischen Strukturen und Gerinnungsphänomene in ZNS-Gefäßen bei der Entstehung eine Rolle spielen. Frühere Untersuchungen konnten bereits einen Zusammenhang zwischen COVID-19 und dem Auftreten oder der Progression eines dementiellen Syndroms zeigen. Bei den psychiatrischen Diagnosen wurden am häufigsten Angststörungen und Depressionen diagnostiziert. Personen, die bereits in ihrer Vorgeschichte eine solche Diagnose aufwiesen, hatten dabei ein höheres Risiko, nach überstandener COVID-19-Erkrankung erneut an einer psychiatrischen Diagnose zu erkranken. Die Daten zeigen auch einen möglichen Zusammenhang zwischen COVID-19 und dem späteren Auftreten einer Parkinson Erkrankung. Zusammenhänge zwischen COVID-19 und dem Guillain-Barré Syndrom konnten hingegen nicht nachgewiesen werden.

Post-operative Morbidität und Mortalität bei Personen  mit und ohne COVID-19

In einer retrospektiven Untersuchung wurden chirurgische Patientinnen und Patienten (Alter > 18 Jahren) mit und ohne SARS-CoV-2 Infektion (PCR-Diagnostik) in der Häufigkeit postoperativer Komplikationen und der postoperativen Sterberate miteinander verglichen (Haffner MR. Et al. JAMA 2021; doi: 10.1001/jamanetworkopen.2021.5697). Benutzt wurde dazu eine große US-Datenbank (Vizient Inc.).

5.470 chirurgische Patientinnen und Patienten mit positivem Coronatest wurde mit der gleichen Anzahl Corona-negativer chirurgischer Patientinnen und Patienten 1:1 gematcht (nach demographischen Daten und Ethnizität). Kleinere chirurgische und geburtshilfliche Eingriffe wurden aus der Analyse ausgeschlossen.

Die Sterblichkeit SARS-CoV-2-positiv getesteter Personen (14,8%) war doppelt so hoch als von negativ Getesteten (7,1%). Die Anzahl von Komplikationen und die Aufenthaltsdauer im Krankenhaus war zwischen den Gruppen nicht unterschiedlich.   

Dies ist nicht die erste, aber die zahlenmäßig größte Untersuchung über das Schicksal chirurgischer Patientinnen und Patienten mit SARS-CoV-2-Infektion. Das Vorhandensein einer aktiven Infektion erhöht das Risiko, nach einem chirurgischen Eingriff zu versterben, um das Doppelte! Aus diesem Grund sollten elektive chirurgische Eingriffe bei Infizierten, auch ohne das Vorhandensein von Symptomen, um mehrere Wochen verschoben werden. Die Neuplanung eines elektiven Eingriffs wird dabei nicht alleine vom Vorhandensein eines negativen PCR-Tests abhängig sein. Es sind bei der zeitlichen Planung des chirurgischen Eingriffs auch der funktionelle Leistungsverlust durch die Erkrankung und die notwendigen Rehabilitationsmaßnahmen zur Wiederherstellung der körperlichen Leistungsfähigkeit, sowie die Dringlichkeit der chirurgischen Intervention mit zu berücksichtigen.

Inhalatives Steroid „Budesonid“ – ein neues COVID-19-Therapeutikum ?

In dieser offenen, Parallel-Gruppen Phase-2-Studie wurden Erwachsene innerhalb von 7 Tagen nach Beginn einer milden COVID-19 Symptomatik in folgende Gruppen randomisiert: Übliche Therapiegruppe = Kontrolle (n=73) und eine Budesonid-Gruppe (n=73). In dieser Gruppe wurden die Patientinnen und Patienten aufgefordert, 2x täglich Budesonid  (inhalatives Steroid) zu jeweils 400µg zu inhalieren (Ramakrishan S, et al. Lancet Respir Med 2021; doi: 10.1016/S2213-2600(21)00160-0).

Der primäre Studienparameter war die Häufigkeit eines Besuchs in einer Notaufnahme oder die Notwendigkeit einer Krankenhausaufnahme. Sekundär wurde mittels Fragebogen das zeitliche Verschwinden der Symptome erfasst und auf Unterschiede in der Viruslast in den oberen Atemwegen und in der pulsoxymetrisch gemessenen Sauerstoffsättigung  gemessen.

Besuch in einer Notaufnahme oder Hospitalisation fand in 14% der Patientinnen und Patienten der Kontrollgruppe und in 1% in der Budesonid-Gruppe statt. Auch die Symptome verschwanden in der Budesonid-Gruppe zirka 1 Tag rascher als in der Kontrollgruppe. Interessanterweise wurden keine Unterschiede in der Viruslast in den oberen Atemwegen oder in der täglich gemessenen Sauerstoffsättigung gefunden. Die Autoren schreiben, dass das primäre Outcome durch die Behandlung von 8 Patientinnen und Patienten einmal vermieden werden kann (Number needed to treat =8).

Ich denke trotz der ermutigenden Ergebnisse ist die Studie zunächst zu klein, um endgültige Schlüsse über mögliche positive Auswirkungen inhalativer Steroide bei mild Erkrankten zu treffen. Die ursprüngliche Poweranalyse hätte eine Probandenanzahl von 199 Patientinnen und Patienten pro Gruppe errechnet. Tatsächlich wurde aber frühzeitig abgebrochen – ich frage mich warum, denn es dürfte derzeit nicht schwierig sein, 400 Menschen mit milder COVID-19 Erkrankung für eine Studie ohne Invasivität zu finden. Interessant sind auch die Diagnosen mancher Patientinnen und Patienten, die in Notaufnahmen und Krankenhäusern behandelt werden mussten. Ein akutes Nierenversagen, eine diabetische Ketoazidose und vor allem Unfalldiagnosen müssen nicht unbedingt etwas mit COVID-19 zu tun haben. Skeptisch macht mich auch die Tatsache, dass keine Unterschiede in den pulsoxymetrisch gemessenen Sättigungswerten und in den Ergebnissen der quantitativen PCR aus den oberen Atemwegen zu finden waren.

Erste Berichte über neue „Wundermittel“ in der Medizin sind zunächst immer skeptisch zu betrachten. Gerade ein Eingriff in Immunmechanismen mit Steroiden, ob topisch oder systemisch appliziert, ist immer ein zweischneidiges Schwert. Erinnern wir uns an die Berichte der ersten RECOVERY-Studie, in der ein 20%iger mortalitätssenkender Effekt bei mechanisch beatmeten COVID-19 Intensivpatientinnen und -patienten unter Dexamethason berichtet wurde. Mittlerweile gibt es einige Studien mehr und in Metaanalysen ist die Reduktion der Sterblichkeit von 20% auf 2% geschrumpft. Bei Personen ohne Atemwegssymptome konnte mittlerweile  sogar eine Steigerung der Sterblichkeit unter Steroiden nachgewiesen werden. Auch bei der schweren Influenza wird ein „Zytokinsturm“ ähnlich wie bei COVID-19 für eine schwere Multiorganerkrankung verantwortlich gemacht – allerdings erhöht hier eine systemische Steroidtherapie die Mortalität.

Es gilt also weiterhin kritisch zu bleiben und alles zu hinterfragen, beziehungsweise weitere gut durchgeführte Studien zu fordern, bevor wir allzu optimistisch große Fortschritte in der medikamentösen Therapie der COVID-19 Erkrankung proklamieren!