Der 12. Mai ist der Internationale Tag der Pflegenden. Anaesthesie.News sprach mit dem Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Intensiv- und Anästhesiepflege im ÖGKV Bernhard Rafner über die Perspektive der Pflege auf die Pandemie, die Attraktivierung der Fachpflege im Bereich Anästhesie und Intensivmedizin und die neue ARGE Fachpflege in der ÖGARI.

AnaesthesieNews: Der 12. Mai wird weltweit als der Tag der Pflegenden begangen: Wie blicken Sie aus Perspektive der Fachpflege Anästhesie und Intensivmedizin auf die vergangenen mehr als zwei Pandemiejahre zurück?

Bernhard Rafner: Neben all den Herausforderungen, mit denen die Anästhesie- und Intensivpflege schon vor der Pandemie zu tun hatte, sind die letzten etwas mehr als zwei Jahre durchaus als ein „Tal der Tränen“ zu betrachten. Es gab schon vorher Häuser mit wenig Personal, widrigen Arbeitsbedingungen und Krankenständen. Es gab vorher schon Diskussionen in Bezug auf Bezahlung, Schwerarbeiterregelung, Dienstzeitverkürzung, Notwendigkeit der flexibleren Kinderbetreuung. Eine Ausbildung und ein Personalschlüssel für den Aufwachraum oder auf Intermediate Care Units beispielsweise waren schon vorher nicht existent. Die Herausforderungen auf solchen Abteilungen waren und sind immens und eine fundierte Ausbildung und Expertise des Personals sind extrem wichtig.

Die hohen psychischen und körperlichen Belastungen, die atypischen Arbeitszeiten bei nicht unbedingt leistungsgerechtem Einkommen und damit verbundenem erhöhtem Risiko, selber zu erkranken, haben Studien zu den Arbeitsbedingungen schon vor der Pandemie beschrieben. Dies sind auch die Faktoren, die das Durchhalten bis zur Pension in der Pflege insgesamt unwahrscheinlich machen. Die Sonderauswertung des Österreichischen Arbeitsklima Index in den „Arbeitsbedingungen in Pflegeberufen“, die das Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz 2021 gemacht hat, zeigt dies deutlich vor allem für Frauen – die einen großen Teil des Pflegepersonals ausmachen. Und gerade in den Bereichen der Spezialisierungen wie der Anästhesie- und Intensivpflege sind diese hohen Belastungen durch ein hohes Engagement und einem hohen Maß an Verantwortungsbewusstsein kompensiert.

Aber wenn hoch motivierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die ihnen so wichtige Komponente des menschlichen Umgangs nicht mehr möglich ist, weil die Zeit fehlt, weil die Schutzausrüstung die schon eingeschränkte Kommunikation unmöglich macht, man seinen eigenen menschlichen Bedürfnissen im Dienst nur mehr schwer nachkommen kann und einem dann auch noch die Wertschätzung, die sich anfangs noch durch Klatschen zeigte und dann später durch Demonstrationen vor den Krankenhäusern, aus denen sich die Kolleginnen und Kollegen aus dem Hinterausgang schleichen mussten, um nicht bespuckt oder attackiert zu werden… – muss man noch mehr sagen? Krankenstände, die das „Einspringen“ notwendig machten und die Belastung noch mehr verstärken, zum Beispiel, weil das eigene Kind zu Hause am Nachmittag alleine ist. Der Stundenüberhang in den Dienstplänen ist immer noch enorm, von politischer Seite wird das ignoriert. Die COVID-19-Pandemie bewirkt eine Reise in die prognostizierte Zukunft: phasenweise extrem viele Patientinnen und Patienten und zu wenig Personal, das an seine Grenzen geht. Die physische und psychische Belastung war immer wieder immens. Und selbst da wurden dann die offenen Dienste besetzt, die Anästhesie- und Intensivpflege arbeitete Schulter an Schulter zusammen und pflegte in IMCUs, Aufwachräumen und umgewandelten Operationssälen die Patientinnen und Patienten mit COVID-19. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit und der Zusammenhalt in der Krise waren bemerkenswert!

Zugleich starben weltweit laut dem International Council of Nurses von Jänner 2020 bis Mai 2021 115.000 Kolleginnen und Kollegen in den Gesundheitsberufen an COVID-19. Die Meldungen der Regierungen weltweit an die WHO sprachen hingegen von nur 7.000 Kollegen…. Und kaum sinken die Infektionszahlen, sinkt auch das mediale und politische Interesse an der Pflege generell und auch an der Anästhesie- und Intensivpflege. Glaubwürdige Politik sieht anders aus.

AnaesthesieNews: In der gesundheitspolitischen Debatte war zuletzt viel vom Mangel an Pflegenden oder gar „Pflegenotstand“ die Rede: Wie stellt sich das Thema spezifisch in den Bereichen Anästhesie- und Intensivpflege dar?

Bernhard Rafner: Der Begriff des „Pflegenotstandes“ lässt den Beruf der Pflege in einem falschen Licht erscheinen und schadet auch dem Image der Pflege, denn es ist eigentlich ein Systemnotstand und ein Steuerungsproblem. Das zeigt auch gleich das erste Thema: es gibt – wie in vielen Bereichen in Österreich – keinerlei seriöse Zahlen, die hier trotz eines Gesundheitsberuferegisters klare Tendenzen für den spezifischen Bereich der Anästhesie- und Intensivpflege erkennen lassen. Aus den persönlichen Gesprächen und unseren Sitzungen in der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Intensiv- und Anästhesiepflege des Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverbandes (ÖGKV), in der alle Bundesländer vertreten sind, wird deutlich, dass wir tatsächlich eine höhere Fluktuation, aber auch einen relativen Volumenmangel erkennen können, der trotz klarer Warnzeichen ignoriert und regelmäßig sehr oder zu spät behandelt wird. So weichen viele Pflegefachkräfte in den Spezialbereichen in die Teilzeit aus, um den ständigen Druck zu mindern, und müssen dann erfahren, dass sie als Teilzeitmitarbeiterinnen und -mitarbeiter noch häufiger einspringen müssen. Ihre Freizeit wird dann noch weniger planbar als zuvor. Dabei waren gerade die Spezialbereiche immer interessant für Pflegefachkräfte, die gerne lange Jahre blieben und dabei viel wertvolle Erfahrung erlangt haben – die aber aufgrund der Unsicherheiten Ihrer Dienstzeiten dann frühzeitig die Abteilungen verlassen und ihr Fachwissen und ihre Erfahrung mitnehmen. Zudem sind freie Stellen nur schwer nachzubesetzen. So hatten die Anästhesie- und Intensivpflegeabteilungen von jeher einen hohen Zustrom – umso alarmierender ist es, wenn sich der Personalmangel jetzt auch auf diese Bereiche durchschlägt. Und wenn Fachpflegekräfte erst dann eingestellt werden, wenn die Stellen frei sind, binden sie dabei zusätzlich gut ausgebildete, anleitende Pflegefachkräfte – die häufig nicht eigens dafür abgestellt sind – während einer langen Einschulungsphase. Diese Onboarding-Phase wiederum ist aber für die fachliche und soziale Integration von entscheidender Bedeutung und reduziert erwiesenerweise die Mitarbeiterfluktuation. Auch früher war der Personalstand nur darauf ausgelegt, Tagesroutine „abwickeln“ zu können. Häufig müssen Projekte, Studien, Schulungen, etc. nebenher abgearbeitet werden. Und ein Thema ist das Prinzip der „Implizierten Rationierung“ – also Pflegetätigkeiten, die während des letzten Dienstes notwendig gewesen wären, aber aus Zeitmangel nicht im erforderlichen Maß durchgeführt werden konnten. So wird dann beispielsweise einmal weniger oft pro Schicht der Patient umgelagert als es vorgesehen war oder eine Narkose muss von einer Anästhesistin bzw. einem Anästhesisten alleine ausgeleitet werden. Umstände, die schon längst bekannt sind und auf die die Pflege schon so oft hingewiesen hat.

Anaesthesie.News: Was ist erforderlich, um spezifisch die Fachpflege in den Bereichen Anästhesie und Intensivmedizin attraktiv bzw. attraktiver zu machen?

Bernhard Rafner: Auch hierzu gibt es noch kaum Untersuchungen, die die Bedürfnisse der österreichischen Pflegenden speziell in der Anästhesie- und Intensivpflege aufzeigen. Aber wieder zeigen die Informationen in der BAG Intensiv- und Anästhesiepflege des ÖGKV, dass – ähnlich wie es einschlägige Untersuchungen von Personalberatungsfirmen zeigen – einerseits die Unternehmenskultur, das Betriebsklima und der Führungsstil, andererseits Gehalt, Benefits wie vermehrter Urlaub oder reduzierte Wochenstunden und Sozialleistungen als wesentlich betrachtet werden. Hingegen haben aber die Themen des Aufgabengebietes, von Entwicklungsmöglichkeiten und die Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen, einen stärkeren Einfluss für die Zufriedenheit und den Verbleib im Spezialbereich der Anästhesie- und Intensivpflege. Dies zeigt sich auch in der Themenauswahl, die die BAG Intensiv- und Anästhesiepflege des ÖGKV in ihrem Positionspapier formuliert hat: Hier geht es in erster Linie darum, wie die tägliche Praxis auf den Intensiv- und Anästhesieabteilungen vereinfacht werden kann, wie Pflege zur Patientensicherheit beitragen und wie die interprofessionelle Zusammenarbeit aussehen kann. Und dies nicht durch eine Reduktion ihrer Aufgaben, sondern durch eine verantwortungsvolle, professionelle Übernahme von tatsächlichen (Entscheidungs-)Kompetenzen mit entsprechenden Rahmenbedingungen – und nicht einzelner Skills, die aus Ressourcenknappheit von einer Berufsgruppe zum Beispiel an eine andere delegiert werden. Wir brauchen Mitspracherecht in Entscheidungen, die die Pflege in Österreich betreffen. Auch braucht es eine bundesweit einheitliche und generalistische Ausbildung in den Spezialbereichen mit einer Vertiefung der fachspezifischen Inhalte anhand eines Drei-Stufen-Modells und damit verschiedener Karrieremodelle in der Pflege. Die Patientinnen und Patienten profitieren nicht von scharf abgegrenzten Aufgaben , sondern von einer verstärkt kooperativen Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe.

Anaesthesie.News: Die ÖGARI hat die Mitgliedschaft auch für Fachpflegende geöffnet, die Konstituierung einer eigenen ARGE steht unmittelbar bevor. Wie sehen sie diese neue Dimension der Zusammenarbeit und was ist geplant?

Bernhard Rafner: Die ÖGARI hat vor kurzem eine Stellungnahme mit Empfehlungen zum Österreichischen Strukturplan Gesundheit abgegeben. Dort wurde neben der materiellen Ausstattung erstmalig eine Mindest-Personalausstattung in der Anästhesiepflege oder in den Aufwachräumen, Holding Areas und IMCUs genannt. Gemeinsam mit einer „Arbeitsgemeinschaft Fachpflege“ in der ÖGARI ist das ein für uns wichtiges, erstes Zeichen, dass die Zusammenarbeit gesucht wird, und entspricht ja der täglichen Praxis am Patientenbett, am OP-Tisch und überall dort, wo sonst noch intensive, gemeinsame Pateientenbetreuung stattfindet. Wenn wir eine offene, vertrauensvolle und vorurteilsfreie Gesprächsbasis aufgebaut haben, kann das nur allen in diesem Bereich Tätigen, dem Fach und letztlich den Patientinnen und Patienten dienlich sein! Die Zusammenarbeit der unterschiedlichsten Berufsgruppen im Gesundheitswesen ist auf alle Fälle anzustreben, um ein weiteres Verständnis füreinander zu entwickeln. Das ist im Interesse des Wohles aller: der uns anvertrauten Patientinnen und Patienten und von uns im Gesundheitswesen selbst! Ist die Kommunikation nicht ein Schlüsselelement für die Mitarbeiterzufriedenheit? Von der Patientensicherheit gar nicht zu sprechen!

Gemeinsam können wir leichter die Organisation, die Struktur und die Abläufe beeinflussen und müssen der Politik unsere möglicherweise unterschiedlichen Sichtweisen gemeinsam mitteilen. In einer Form und Sprache, die für Nicht-Pflegende und Nicht-Medizinerinner und Nicht-Mediziner die Umsetzung in der Legislative erleichtert. Die Politik hat die rechtlichen Rahmenbedingungen zu liefern, die von den Expertinnen und Experten unserer Fachgesellschaften für als notwendig erachtet werden! Und auf keinen Fall umgekehrt, dass die Politik Forderungen stellt oder Strukturen schafft, die wir in der Praxis einfach nicht leben können. Wir werden die Forderungen nach einem Personalschlüssel in den Spezialbereichen noch konkretisieren müssen und der Strukturplan Gesundheit muss von einer Empfehlung zu einem bundesweit einheitlichen Mindeststandard angehoben werden, in einzelnen Bundesländern sollten keine geringeren Standards gelten. Auch bedarf es von politischer Seite endlich klar erkennbarer Schritte statt Absichtserklärungen und typisch österreichische Kompromisse. Das Medizinproduktegesetz verpflichtet beispielsweise den Hersteller von Medizinprodukten nicht zur Einschulung. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die im Hochrisikobereich arbeiten, dürfen sich gegenseitig einschulen – könnten Sie sich ein derartiges Vorgehen in der Luftfahrt vorstellen? Gemeinsame Schulungen, Trainings und Simulationen müssen verpflichtend werden. Wir arbeiten zusammen, warum lernen wir dann nicht zusammen? Die Empfehlungen der World Health Organisation (WHO) nach strukturierten Übergaben ist aus dem Jahre 2007, die Richtlinien für sichere Chirurgie aus dem Jahre 2009. Und da nützt es gar nichts, solche Entwicklungen einfach von oben herab aus der Chefetage zu diktieren. Es bedarf eines Wandels der Kultur, die tagtäglich gelebt wird! Nur wenn alle vom Nutzen und der Wichtig- und Richtigkeit ihrer Aufgabe und Tätigkeit überzeugt sind, haben wir einen Wandel vollzogen.

Anaesthesie.News: Gibt es weitere Anliegen, die Sie mit Blick auf den Internationalen Tag der Pflegenden thematisieren möchten?

Bernhard Rafner: Am 12. Mai, dem Geburtstag von Florence Nightingale, der Begründerin der professionellen Krankenpflege, wird der Tag der Pflege gefeiert. Dazu legt der ICN jedes Jahr ein Schwerpunktthema fest. Das Motto des heurigen Jahres lautet: Nurses: A Voice to Lead – Invest in nursing and respect rights to secure global health. Damit will der ICN auf die Notwendigkeit hinweisen, in die Pflege zu investieren und die Rechte von Pflegekräften zu respektieren. Um widerstandsfähige, qualitativ hochwertige Gesundheitssysteme aufzubauen, die den Bedürfnissen der Menschen und Gesellschaften jetzt und in Zukunft gerecht werden. COVID-19 hat uns gezeigt, dass wir uns nicht auf dem Status praesens ausruhen dürfen, dass noch viel zu tun ist. Überall. Weil wir alle Verantwortung tragen. Deshalb müssen wir über den Schatten springen, es wagen. Gemeinsam. Oder wie Brecht einmal formulierte: „Das Schicksal des Menschen ist der Mensch.“

ZUR PERSON

Bernhard Rafner ist seit Februar 2022 Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Intensiv- und Anästhesiepflege des Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverbandes (ÖGKV). Er ist in der Anästhesiepflege tätig und studiert Pflegewissenschaft mit Schwerpunkt Management an der UMIT in Hall in Tirol.